Leben mit ADHS Julian (12) stolpert über sich selbst
Julian ist zwölf, lebt in einer Patchworkfamilie mit vier Geschwistern, und manchmal sind alle richtig genervt. Denn Julian hat ADHS. Er ist laut, will immer im Mittelpunkt stehen, kann sich kaum auf etwas länger konzentrieren, abgesehen von Computerspielen. Aber Julian hat wie alle ADHS-Kinder auch eine ganz andere Seite.
Schon im Kindergarten fiel auf, dass Julian anders ist als die anderen Kinder. "Wir haben es noch nie geschafft, ein Puzzle oder ein Memory zu Ende zu spielen. Nicht nur, weil Julian sich nicht konzentrieren kann, sondern auch, weil er nicht verlieren kann. Das widerspricht seinem großen Selbstbewusstsein. Damit verdirbt er auch den anderen vier regelmäßig den Spaß am Spiel", erzählt seine Mutter Alexandra.
"Wie soll ich mich denn auch noch um einen Julian kümmern?"
Basteln, malen, kneten – auch damit konnte man den Jungen nicht zum Stillsitzen bewegen. Man musste dauernd ein Auge auf ihn haben, weil er sich ständig überschätzte. Doch als seine Mutter ihn von der Einschulung zurückstellen lassen wollte, um dem Jungen noch die Gelegenheit zu geben, seine Energie in Bewegung umzusetzen, bekam sie Gegenwind. Julian musste eingeschult werden, und damit begann ein echter Leidensweg.
"Ich war wöchentlich in der Sprechstunde. Bis mir mal der Kragen geplatzt ist und ich die Lehrerin gefragt habe, wer denn hier die Pädagogin sei? Doch darauf bekam ich nur zur Antwort, sie hätte so viele Kinder in der Klasse, die nicht mal deutsch könnten, wie solle sie sich denn da auch noch um einen Julian kümmern?"
Ritalin griff massiv in Julians Persönlichkeit ein
Zuerst versuchte es Alexandra mit einer homöopathischen Behandlung, doch schon bald landete sie bei Ritalin. "Aber ich bin mit der Dosierung überhaupt nicht klar gekommen. Bei einer dreiviertel Tablette hat sich nichts getan. Habe ich ihm eine ganze gegeben, hat er wie ein Zombie nur noch dagesessen und in die Ecke gestarrt. Das war nicht mal mehr annähernd mein Kind."
Jetzt nimmt er ein anderes Medikament mit verzögerter Wirkung – aber nur, wenn er zur Schule geht. An den Wochenenden und in den Ferien darf Julian er selbst sein.
"Mir geht es nicht darum, ihn ruhigzustellen. Mir geht es darum, ihm zu helfen, in der Schule besser klarzukommen", sagt Alexandra. Wie alle Kinder mit ADHS hat der Junge Schwierigkeiten damit, sich zu konzentrieren und sich angemessen zu verhalten. Er spielt lieber den Klassenkasper.
Dass Julian ein intelligenter Junge ist, kann man sehen, wenn man ihn beobachtet. Seine Augen springen hin und her, haben offensichtlich alles im Blick. Jede Regung wird wahrgenommen. "Er nimmt alles auf einmal wahr, jedes Geräusch, jede Bewegung, kann das alles aber nicht filtern. Manchmal denke ich, das muss wie eine Gewehrsalve von Eindrücken sein, die da auf ihn einstürmt. Wie soll man das verarbeiten?"
Der Zappelphilipp überdeckt andere Persönlichkeitsanteile
Dass es anstrengend ist, wenn Julian sein Medikament nicht nimmt, bestreitet Alexandra nicht. Die Art und Weise, wie ihr Mann nickt, verrät, dass es sogar sehr anstrengend ist. "Wer das nicht selbst mitmacht, der kann sich das nicht vorstellen", meint Gunther. Aber die beiden sind sich einig, dass durch die Medikamente auch andere Teile von Julians Persönlichkeit ruhiggestellt werden, und zwar Teile, die sehr faszinierend sind.
"ADHS passt nicht in unser System von Anpassung und Zielstrebigkeit. Aber das heißt nicht, dass diese Kinder schlecht oder krank sind – im Gegenteil. Natürlich, Julian fordert uns von früh bis spät. Aber er ist auch extrem sensibel, fantasievoll, der Meister im Finden kreativer Lösungen, durchsetzungsfähig und selbstbewusst. Die Argumente gehen ihm auch nie aus. Davon würde ich mir manchmal gerne eine Scheibe abschneiden", schmunzelt sein Stiefvater.
In Julian wartet ein Talent auf seine Entdeckung
Julian wird seinen Weg gehen, davon sind beide überzeugt. "In ihm schlummert ein ganz großes Talent. Da ist etwas, das wir hier alle spüren können." In diesem Moment kommt der Junge ins Zimmer, und der riesige Berner Sennenhund begibt sich schon mal in Schmuseposition. Spocky weiß, jetzt wird ausgiebig gekuschelt, und schon sind die beiden ein einziges Knäuel.
Julian, bei dem alles, was er macht oder sagt, extrem laut zu sein scheint, wird bei Spocky ganz leise. Er ist sehr anlehnungsbedürftig, auch jetzt mit zwölf noch. Er braucht die ruhigen Momente, das Auftanken und das Innehalten. Sein Hund versteht ihn, liebt ihn, und geht ihm einfach aus dem Weg, wenn er mal wieder zu laut ist. Das kann der Rest der Familie nicht so leicht.
Ein Kind mit ADHS wird schnell zum Sündenbock
Natürlich stresst Julian seine Geschwister manchmal gewaltig: "Julian kennt es gar nicht anders. Er nervt die Leute. Das weiß er. Die anderen Kinder haben schnell durchschaut, dass er am ehesten den Ärger bekommt. Das nutzen sie manchmal aus, vor allem die Kleinste."
Alexandra gibt zu: "Klar passiert es mir als Mutter auch gelegentlich, dass ich automatisch davon ausgehe, dass er den Mist gebaut hat." Dann quält sie das schlechte Gewissen. Genau wie in den Momenten, in denen sie überlegt, ihn auch an einem Samstag mit Medikamenten ruhigzustellen oder wenn sie mal wieder richtig laut werden muss, um zu Julian durchzudringen. "Julian braucht so viele Grenzen und Regeln, die man täglich von Neuem wieder aufstellen muss. Manchmal resigniert man, einfach, weil die Kraft fehlt."
Seit sie nicht mehr alleinerziehend ist, ist es besser geworden. "Aber wirklich etwas von mir sagen lässt er sich nicht." Gunther schaut bedrückt. "Sein Vater ist Julian heilig und der sieht die Problematik leider nicht so wirklich. Vor allem die Regeln werden immer wieder außer Kraft gesetzt. Das tut Julian nicht gut und uns damit auch nicht. Denn wenn er heimkommt, ist er noch aufgedrehter."
Julians andere Seite
Julian braucht volle Aufmerksamkeit. Bekommt er die nicht im positiven Sinn, dann nimmt er eben die negative Variante. Hauptsache, er steht im Mittelpunkt. Mit Konkurrenz kann er nicht umgehen.
"Wenn man aber mit ihm alleine ist, dann ist das etwas ganz Besonderes. Er ist so zuvorkommend, interessant, voller Ideen. Ich liebe diese Momente und die Gespräche mit ihm." Doch sie sind selten. Alexandra arbeitet Vollzeit und die große Patchworkfamilie, der Hund, der Haushalt fordern ihren Tribut.
Oft stehen Erwachsene Freundschaften im Weg
Obwohl Julian die Regeln des sozialen Miteinanders inzwischen gelernt hat, hat er keine Freunde. Der einzige, den er je hatte, war genau wie er. "Da hatten auch die Eltern Verständnis, konnten damit umgehen. Doch dann mussten wir wegziehen und seitdem ist er kein einziges Mal eingeladen worden. Das tut einem als Mutter schon weh. Vor allem, wenn man mehrere Kinder hat und weiß, wie es bei den anderen ist." Gunther ergänzt: "Und wenn man weiß, was hinter dieser lauten Fassade steckt."
Aber Julian scheint es nicht zu stören. Es wirkt, als wäre er sich selbst genug, es scheint ihm auch egal zu sein, was andere von ihm denken. Wenn er mal wieder über sich selbst stolpert, dann steht er eben einfach wieder auf.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.