Moskau nach dem Blutbad "Viele Russen glauben das"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Wenn der Terror zuschlägt, scheint die Zeit stillzustehen. Die Menschen in Moskau versuchen, wieder zurück in den Alltag und die Normalität zu finden – oder in das, was sie dafür halten sollen.
Vor der Crocus City Hall haben Tausende Menschen Blumen und Stofftiere abgelegt. Der Moskauer Regen durchnässt diese Symbole der Trauer zusehends. Geschützter brennt die Kerze, die Präsident Wladimir Putin in einer Kirche nahe seiner Residenz bei Moskau angezündet hat. Der nationale Tag der Trauer, den Putin für Sonntag ausgerufen hat, ist bereits wieder Geschichte, und in Moskau kehrt der Alltag wieder ein.
In die Seelen der Menschen ist die Normalität noch nicht zurückgekehrt. Das erzählen die wenigen Beobachter, die aus Moskau noch so unabhängig berichten können, wie das eben möglich ist. Großes Entsetzen, Rat- und Machtlosigkeit nimmt beispielsweise Christoph Wanner wahr, der für Welt TV seit Jahren in Moskau arbeitet. "Wo sind wir nur gelandet", diesen Satz hat er oft zu hören bekommen an diesem schwarzen Wochenende. Der Terror ist zurück in der Stadt, und er beschäftigt die Menschen, rund um die Uhr.
Der Terror ist zurück in der Stadt
Ja, die Polizeipräsenz sei spürbar hochgefahren worden in den Straßen, "wie immer halt", so erzählt Wanner. Aber so wie die meisten Moskowiter hat auch er schon einige Terroranschläge in der Stadt erlebt und weiß: "Irgendwann holt dann alle Beteiligten der Alltag wieder ein, und dann geht die Polizeipräsenz auch wieder runter".
In Scharen sind die Menschen an diesem Wochenende Blut spenden gegangen. Sie haben in langen Schlangen unter Regenschirmen darauf gewartet, diesen kleinen Beitrag zur Versorgung der vielen Verletzten leisten zu können, die in den Krankenhäusern der Stadt weiter um ihr Leben kämpfen. Wer sich angestellt hat, ist dick eingepackt – es ist nasskalt in der Stadt, die Temperaturen liegen nur knapp über dem Gefrierpunkt.
Am Tag der Trauer wurden Unterhaltung und Werbung aus den Programmen des Staatsfernsehens verbannt. Kulturveranstaltungen wurden abgesagt, von vielen Werbetafeln in der Stadt ist die bunte Reklame verschwunden, und stattdessen sind brennende Kerzen abgebildet. "Es lässt niemanden kalt", weiß Christoph Wanner aus seinen vielen Gesprächen.
Fruchtbarer Nährboden für Putins Propaganda
Das Entsetzen bildet einen fruchtbaren Nährboden für das Narrativ des Kremls zum blutigen Anschlag in der Crocus City Hall. Die Propagandamaschine von Wladimir Putin zieht eine unverhohlene Vertikale von den mutmaßlich aus Tadschikistan stammenden "IS"-Terroristen über die Ukraine bis hin nach Washington zum alten Klassenfeind. Geplant in den USA, organisiert vom Selenskyj-Regime in Kiew, ausgeführt von mitleidlosen Schlächtern aus Zentralasien – das ist die Geschichte, die Putin und seine Gefolgsleute den trauernden Menschen in Russland erzählen. Und sie verfängt.
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"Sie können uns nicht auf dem Schlachtfeld besiegen. Deshalb haben sie entschieden, uns auf diese Weise zu brechen", sagt eine Passantin auf der Straße ins Mikrophon einer westlichen Nachrichtenagentur. "Aber das wird ihnen nicht gelingen. Das macht uns nur stärker", fügt sie hinzu, der Mund entschlossen verkniffen, eine Träne rinnt über ihre Wange.
Während manche Beobachter im Westen Putins Stellung durch den Anschlag erschüttert sahen, weil seine Sicherheitskräfte das Blutbad nicht verhindern konnten, beobachtet Welt-TV-Korrespondent Christoph Wanner eher das Gegenteil. "Was ich nicht sehen kann, ist, dass die Menschen von Putin abweichen würden. Er ist tatsächlich nach wie vor populär".
Was Putin hilft, ist das Gefühl der Menschen, denselben Feind zu haben wie er. "Die Staatsmacht und die Medien, die prorussischen Kriegsblogger, sehen die Verantwortung bei der Ukraine, und manche gehen sogar noch einen Schritt weiter." Blogger wie Boris Roshin und TV-Größen wie Vyacheslav Nikonov verkünden auf allen Kanälen und Wellen, dass die USA der Kopf hinter dem Anschlag waren, die Ukraine der Zwischenhändler und die Mörder von Moskau nichts anderes als bezahlte Killer.
Heldengeschichten als Trost
Zu dieser Geschichte passt, dass die Verdächtigen in Bryansk festgenommen wurden. Von Moskau führt über Bryansk eine fast direkte Straßenverbindung in den Norden der Ukraine. Der Inlandsgeheimdienst FSB spricht ganz offen von "Kontakten", die die Terrorzelle in die Ukraine gehabt habe. "Es gibt kein einheitliches Bild", so nimmt es Christoph Wanner wahr, aber: "Viele Russen glauben das".
Trost finden die Menschen in Moskau inzwischen in den vielen kleinen Wundern und Heldengeschichten, die rund um den blutigen Anschlag erzählt werden. Da ist die Rede von einem jungen Rollstuhlfahrer namens Maxim, der – tödlich in die Brust getroffen – über seine Freundin fiel und mit seinem Körper den ihren beschützte. Sie sei gerettet worden und erhole sich derzeit im Krankenhaus, so kann man in der Online-Zeitung "Lenta" lesen.
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Da ist der Schlosser Alexander aus Dmitrov nahe Moskau, der mit seiner Freundin eine Kindergruppe aus dem Konzertsaal der Crocus City Hall geführt haben soll. Gemeinsam versteckten sie sich hinter einem Tresen, bis sie schließlich entkommen konnten. Und da ist der 15-jährige Schüler Islam Khalilov, der am Abend des Anschlags für ein paar Rubel an der Garderobe arbeitete und insgesamt fast 100 Menschen aus dem Kugelhagel rettete, indem er ihnen den kürzesten Weg nach draußen zeigte.
Dem Jungen wurde die Ehrenurkunde der Staatsduma für sein entschlossenes Handeln verliehen. Ihm gebührten Respekt und Bewunderung, so eine Duma-Sprecherin. Der Terror schreibt seine eigenen Geschichten, auch in Moskau.
- Gespräch mit Welt-TV-Korrespondent Christoph Wanner
- Dagens.de: Behindertengerechter Held opfert sein Leben, um Freundin bei "Crocus"-Angriff zu retten (deutsch, kostenfrei, 24.03.2024)
- New York Post: Hero teen attendant leads more than 100 people to safety in Moscow terror attack: ‘I didn’t leave anyone behind’ (englisch, kostenfrei, 24.03.2024)