Ex-US-General Ben Hodges "Schlimmer kann es nicht werden"
Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Russlands Streitkräfte erzielen Fortschritte an der Front – umso dringender braucht die Ukraine Unterstützung. Ben Hodges, früherer US-General, erklärt, was der Westen jetzt dringend leisten muss.
Kritisch ist die Lage an der Front, der ukrainischen Armee fehlt es an Waffen, Munition und Soldaten. Nun droht eine russische Offensive, die die Verteidigungslinien der Ukraine überwinden könnte. Woran mangelt es am meisten? Wie nutzt der Kreml die Angst vor der Atombombe? Wo müssen Deutschland und Europa Russland in diesem Jahr übertrumpfen? Diese Fragen beantwortet Ben Hodges, früherer General der United States Army und Befehlshaber der amerikanischen Truppen in Europa, im Gespräch.
t-online: Herr Hodges, woran mangelt es im Abwehrkampf der Ukraine gegen die russischen Invasoren am meisten?
Ben Hodges: Es fehlt an Entschlossenheit, es mangelt an einer Strategie. Nicht aufseiten der Ukrainer, sondern bei den westlichen Demokratien. Spätestens jetzt, wo die Ukraine in der Defensive unter schwerem Druck steht, müssten die Staaten des Westens die unmissverständliche Botschaft der Entschlossenheit an den Kreml senden: Wir wollen, dass die Ukraine Russland in diesem Krieg besiegt. Und um dieses Ziel zu erreichen, werden wir alles tun, was notwendig ist.
Immerhin hat der US-Kongress kürzlich ein milliardenschweres Hilfspaket für die Ukraine bewilligt. Wird es der ukrainischen Armee helfen, die Front zu halten?
Selbstverständlich sind die 61 Milliarden Dollar sehr hilfreich. Aber bis sich die gesamte Wirkung entfaltet, braucht es einige Zeit. Vor allem die europäischen Unterstützer müssen nun ihre Produktion von Waffen und Munition weiter hochfahren, die Ukraine muss ihr Rekrutierungssystem reformieren und optimieren. Zusätzlich mit der Lieferung neuer Waffensysteme an die ukrainische Armee wäre dann bereits viel gewonnen.
Zur Person
Frederick Benjamin "Ben" Hodges, Jahrgang 1958, ist Lieutenant General der United States Army im Ruhestand. Von 2014 bis 2017 war der Berufsoffizier Oberkommandierender der US-Landstreitkräfte in Europa. Heute berät Hodges Unternehmen und zivilgesellschaftliche Organisationen in geopolitischen Fragen.
Sie haben 2024 bereits als "Jahr des industriellen Wettbewerbs" charakterisiert.
Diesen Wettbewerb müssen der Westen und die Ukraine gegen Russland und dessen Unterstützer wie den Iran und Nordkorea gewinnen. Unser industrielles Potenzial ist gewaltig, nur muss die Unterstützung und Belieferung der Ukraine Priorität genießen. Es ist alles eine Frage des politischen Willens.
Der allerdings nach Jahren des Krieges gegen die Ukraine noch nicht ausreichend ausgeprägt ist. Woran liegt das?
Das ist für mich schwer nachzuvollziehen. Allerdings erkennen immer mehr europäische Politiker, dass diese Bedrohung nicht einfach verschwinden wird. Wenn die Ukraine scheitert, dann wird alles nur noch viel schlimmer. Das neue Hilfspaket der USA war wichtig: Es hat in den europäischen Hauptstädten deutlich gemacht, dass die Vereinigten Staaten in diesem Konflikt weiter engagiert sind. Für den Kreml hingehen war es eine große Enttäuschung, dass die USA nicht aufgegeben haben. Gleichwohl wird Russland seine Aggression nicht einstellen, das hat der Kreml deutlich gemacht.
In den Hauptstädten des östlichen Europas sind sich die politischen Entscheidungsträger dieser Tatsache bewusst. Wie bereiten sich die Regierungen etwa in Warschau oder Bukarest für den Ernstfall vor?
Ich glaube nicht, dass die polnische Regierung im Falle einer drohenden Niederlage der Ukraine einfach abwarten und sich hinter ihren Grenzen verstecken würde. Vielmehr ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Polen dann in die Ukraine hineingeht, um das Schlimmste zu verhindern. Genauso kann ich mir vorstellen, dass sich Rumänien öffentlich zum Schutz der Republik Moldau bekennt. Es gibt also zwei Nato-Länder, die durchaus dringenden Handlungsbedarf sehen könnten, wenn die Ukraine zu scheitern droht. Dieses mögliche Szenario sollte auch Deutschland zu denken geben.
Weil es durch eine massive Unterstützung der Ukraine abgewendet werden kann?
Fällt die Ukraine, wird Deutschland einer der größten Verlierer sein. Die Staaten, die zwischen ihm und Russland liegen, wären in diesem Szenario in Kämpfe verwickelt, Deutschland würde von Flüchtlingen überrannt. Eine russische Niederlage in der Ukraine liegt also sowohl im deutschen als auch Interesse weiterer Nato-Staaten, darunter den USA – nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Interessen. Umgekehrt würde durch einen Sieg der Ukraine die Möglichkeit eines tatsächlichen Konflikts zwischen Russland und der Nato stark verringert.
In Teilen der deutschen Regierungspartei SPD besteht immer noch Hoffnung auf ein mögliches "Einfrieren" des Konflikts. Was halten Sie davon?
Das ist strategischer Analphabetismus. Glaubt tatsächlich jemand daran, dass sich die Russen an einen Vertrag halten werden? Die Liste der Vereinbarungen, die Russland eingehalten ist, ist ziemlich kurz. Putin kann man nicht trauen. Die Idee ist aber auch aus anderen Gründen schlecht. Wer will denn entscheiden, an welcher Linie der Konflikt "eingefroren" werden soll? Dann hieße es für Millionen Ukrainer schlichtweg "Pech", wenn sie auf der falschen Seite der Linie leben. Genauso wie es "Pech" für Millionen Deutsche gewesen ist, als sich nach dem Zweiten Weltkrieg der Eiserne Vorhang über sie gesenkt hat? Mit ist unverständlich, warum ein "Einfrieren" eine gute Idee sein soll.
In den USA stehen im November Präsidentschaftswahlen an. Wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, dass ein möglicherweise wiedergewählter Donald Trump die Ukraine fallen ließe?
Für mich persönlich ist es immer noch unglaublich, dass die Republikaner als Partei von Ronald Reagan jetzt mit Trump von jemandem angeführt werden, der gegen alles ist, wofür Reagan jemals stand. Bei der MAGA-Fraktion (Make America Great Again, Anm. d. Red.) gibt es Leute, deren Reden praktisch im Kreml geschrieben worden sind. Amerika ist infiltriert worden, so ist es leider. In den USA gibt es das sogenannte CPAC, ein konservatives politisches Aktionskomitee. Wo hat es im letzten Februar eine Konferenz abgehalten? In Ungarn.
Wo Regierungschef Viktor Orbán als ausgemachter Putin-Versteher regiert.
So ist es. Man kann erahnen, welchen direkten Einfluss Russland auf die amerikanische Politik hat. Aber wir haben noch einige Monate bis zur Wahl, ich schätze, dass Trumps Chancen auf einen Erfolg gesunken sind.
Nehmen wir aber den Fall an, dass Trump ins Weiße Haus zurückkehrt: Was würde das für die Nato bedeuten?
Für die Beziehungen zu den europäischen Verbündeten wäre dies ohne Zweifel eine Belastung. Trump würde die Nato nicht verlassen, aber mit seiner transaktionalen Einstellung und Haltung zu beeinflussen suchen. Für die Ukraine wäre Trump brandgefährlich, er hat bereits angekündigt, den Krieg binnen 24 Stunden beenden zu können. Wie sähe das aus? Er würde erklären, dass die Ukraine von den USA nichts mehr zu erwarten habe. Dann bekäme Putin aus dem Weißen Haus die Nachricht, dass er seine Truppen an dieser oder jener Linie stoppen lassen solle – dann wären beide quitt miteinander. Der Kreml bekäme ein großes Stück der Ukraine, Trump würde sich als Gewinner präsentieren.
Europas Sicherheit wäre aber weiterhin gefährdet, weil Russland auf Zeit spielt?
Deswegen sollten die Europäer nachdenken, was eine erneute Trump-Präsidentschaft für sie bedeutete – und diese Sorge auch gegenüber den USA formulieren. Europa besitzt doch auch Druckmittel, vor allem wirtschaftlicher Art.
Kürzlich hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron seinen Vorschlag wiederholt, westliche Bodentruppen in die Ukraine zu entsenden. Was halten Sie davon?
Das ist eine sehr kluge Idee. Denn so haben die Russen etwas, was sie beunruhigt. Macrons Vorschlag hilft dabei, die Initiative zurückzuerlangen, indem die Russen einmal auf uns reagieren müssen und nicht umgekehrt. So halte ich es für einen großen Fehler, dass Präsident Biden vor mehr als zweieinhalb Jahren US-Bodentruppen in der Ukraine ausgeschlossen hat. Warum sollte man den Russen eine solche Ankündigung machen? Damit sie sich keine Sorgen machen müssen? Das ergibt doch keinen Sinn.
Tatsächlich scheinen in der US-Administration wie auch in der Bundesregierung die Drohungen des Kreml hinsichtlich der russischen Atombomben Wirkung zu zeigen.
Die Administration von Joe Biden versucht, den Konflikt zu regulieren – wie eine Heizung: Manchmal erhöht man die Temperatur, manchmal senkt man sie. Damit würden die Russen sich schon fügen. Das ersetzt allerdings keine nachhaltige Strategie, um an den Beginn unseres Gesprächs zurückzukehren. Entschlossenheit sähe so aus: die unmissverständliche Erklärung der USA, die Ukraine so lange mit allem zu unterstützen, was sie für ihren Sieg über Russland braucht. Stattdessen hat Jake Sullivan, der Nationale Sicherheitsberater, erklärt, dass die Ukraine die aus den USA stammenden ATACAMS-Raketen mit großer Reichweite nicht gegen Ziele in Russland einsetzen wird.
Womit wir wieder bei der Angst vor einem Atomschlag sind. Ist die Furcht derart groß?
Am effektivsten sind die Atomwaffen für den Kreml, wenn er sie nicht einsetzt, sondern mit ihnen droht. Putin sieht doch, wie besorgt wir im Westen sind. Diese Angst ist gut für die Russen, uns hilft sie kein bisschen. Denn sie schreckt uns ab. Joe Biden hat erklärt, dass ein russischer Nuklearwaffeneinsatz katastrophale Konsequenzen für Russland hätte. Das ist der richtige Ansatz. Denn dem Kreml ist es zwar egal, wie viele unschuldige Menschen getötet werden könnten, humanitäre oder moralische Gründe spielen für Putin keine Rolle, aber praktische Erwägungen tun es durchaus. Daher muss Putin klargemacht werden, dass der Einsatz von Atomwaffen für Russland keinen Vorteil mit sich bringt.
Wie beurteilen Sie die Entwicklung an der Front in der Ukraine?
Es wird ein schwieriges Jahr, ein Jahr, in dem General Syrskyj als ukrainischer Oberkommandierender die Front stabilisieren muss, um einen größeren Durchbruch der Russen zu verhindern. Das hätte einen bedeutenden psychologischen Effekt. Zum Ende des Sommers werden wir dann sehen, dass viel mehr Munition endlich in der Ukraine ankommt. Ich höre immer wieder düstere Prognosen, dass die Ukraine den Krieg auf keinen Fall gewinnen kann, dabei befasst man sich aber so gut wie nie mit der russischen Seite. Dann würden wir ein differenzierteres Bild gewinnen.
Welches?
Russlands Bilanz ist schlecht. Ein Drittel der Schwarzmeerflotte ist vernichtet, die Luftwaffe hat bei ihrer wichtigsten Aufgabe, die Lufthoheit zu gewinnen, versagt. Eine halbe Million russische Soldaten sind bisher getötet oder verwundet. Die wird der Kreml zwar zu ersetzen suchen, aber ich sehe nicht, dass die Qualität der Landstreitkräfte schnell besser wird. In mehr als zehn Jahren Krieg hat Russland es seit der Krim-Besetzung 2014 nicht geschafft, mehr als 20 Prozent des Territoriums der Ukraine zu erobern, geschweige denn, die Ukraine zu unterwerfen.
Als "Schrödingers Russland" – angelehnt an ein Gedankenexperiment des Physikers Erwin Schrödinger – bezeichnet Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer das zwiespältige Bild Russland bei uns im Westen: Einerseits haben die Russen es nicht geschafft, die Ukraine zu erobern, andererseits soll Russland in wenigen Jahren imstande sein, die Nato anzugreifen. Was stimmt?
Das ist eine spannende Frage. Zunächst einmal wird letzterer Punkt nur relevant, wenn die Ukraine scheitern sollte. Das zu verhindern, liegt wiederum in unserer Hand. Sollte dieser Fall aber tatsächlich eintreten, dann wird Russland die Zeit haben, mit dem Wiederaufbau anzufangen. Die russische Armee würde Hunderttausende ukrainischer Soldaten sowie große Mengen an Ausrüstung und Fahrzeugen von der Ukraine übernehmen. Dann würden sich die Russen wahrscheinlich zwei, drei Jahre nehmen, um sich auf die nächste Phase vorzubereiten. Wenn wir sie nicht hindern. Aber wenn wir bereits die Ukraine scheitern lassen würden, rechne ich auch nicht damit, dass die Sanktionen verschärft würden oder wir andere Dinge unternehmen, um Russlands Fähigkeiten einzuschränken.
Das käme der Selbstaufgabe der europäischen Sicherheit gleich.
Es wäre besser, wenn es nicht dazu kommt. Jetzt ist die Zeit, um uns für die Zukunft vorzubereiten. Wir müssen uns für den Sieg der Ukraine organisieren, wir müssen diplomatische und wirtschaftliche Macht bündeln, um der Ukraine das zu geben, was sie braucht. Dabei steht aber weit mehr auf dem Spiel, es geht um die gesamte regelbasierte Ordnung dieses Planeten. Wenn Russland verliert, wird der Iran isoliert und China abgeschreckt. Jetzt müssen gute Entscheidungen getroffen werden.
Womit wir wieder bei der Furcht im Westen vor einem kollabierenden Russland mit seinen Tausenden Atomwaffen angelangt sind.
Eine Niederlage Russlands führte mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Regimewechsel in Moskau. Warum müssen wir aber immer vom schlimmstmöglichen Fall ausgehen? Wer könnte denn schlimmer sein als Wladimir Putin? Die einzige Chance, dass Russland jemals wieder ein normales Land wird, besteht in der Niederlage der derzeitigen Regierungsform. Ich wiederhole, schlimmer kann es nicht werden. Im Gegenteil, es könnte auch alles anders werden.
Wie?
Wer auch immer nach einer Niederlage Russlands an die Macht kommen könnte, wird ein Militär erben, das besiegt und sehr geschwächt sein würde, dazu eine Verteidigungsindustrie, die in Trümmern liegt. Darauf würde sich der nächste Führer Russlands konzentrieren müssen: Die Dinge in Ordnung bringen, das Land reparieren, wenn man so will. Im Idealfall mit und nicht gegen den Westen. Um dieses Ziel zu erreichen, muss aber nicht nur die Ukraine bestehen, sondern auch wir im Westen. Denn wir sind ebenso das Ziel russischer Machenschaften.
Sie meinen den hybriden Krieg, den Russland gegen westliche Gesellschaften führt? Haben Sie einen Ratschlag?
Wir müssen resilienter werden. Dabei können wir zum Beispiel von Finnland lernen, einem der jüngsten Nato-Mitglieder. Dort werden schon Kinder und Jugendliche in Medienkompetenz unterrichtet. Vertraut nicht jeder Quelle im Internet, seid wachsam und prüft die Informationen kritisch, die ihr findet. Wenn jeder diesen Ratschlag befolgt, hat Russland nicht so leichtes Spiel im hybriden Krieg.
Herr Hodges, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Ben Hodges in Hamburg