Umstrittene Freigabe von Geldern Europaparlament verklagt EU-Kommission
Trotz anhaltender Kritik hatte die EU Fördergelder von rund zehn Milliarden Euro an Ungarn freigegeben. Jetzt klagt das Parlament gegen die EU-Kommission.
Das Europäische Parlament verklagt die EU-Kommission von Ursula von der Leyen wegen der umstrittenen Freigabe von Fördergeldern für Ungarn. Das erfuhr die Deutsche Presse-Agentur am Donnerstag aus einer Sitzung von Parlamentspräsidentin Roberta Metsola mit den Vorsitzenden der Fraktionen in Straßburg. Zuvor hatte am Montagabend der Rechtsausschuss des Parlaments mit großer Mehrheit für die Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg gestimmt.
Über die Klage will das Parlament klären lassen, ob die Entscheidung der Kommission, trotz anhaltender Kritik an Verstößen gegen rechtsstaatliche Prinzipien in Ungarn eingefrorene EU-Fördermittel in Höhe von rund zehn Milliarden Euro für das Land freizugeben, rechtmäßig war. Die Brüsseler Behörde begründete den Schritt damit, dass der ungarische Regierungschef Viktor Orbán die erforderlichen Bedingungen erfüllt habe.
Dass das EU-Parlament die Kommission vor den EuGH bringt, ist ein äußerst seltener Vorgang. Allerdings hatte das Parlament bereits 2021 gegen von der Leyen und ihr Team geklagt, weil diese eine damals neue Regelung zur Ahndung von Rechtsstaatsverstößen in EU-Staaten zunächst nicht angewendet hatten. Das Parlament zog die Klage jedoch wieder zurück, nachdem die Behörde im April 2022 begonnen hatte, die sogenannte Konditionalitätsverordnung gegen Ungarn zu nutzen. Sie ermöglicht es, für Ungarn vorgesehene EU-Länder einzufrieren, wenn wegen Rechtsstaatsverstößen ein Missbrauch der Gelder droht.
"Auf Donald Trumps Spuren"
Bemerkenswert ist die neue Klage vor allem, weil Parteifreunde von der Leyens keine offensichtlichen Versuche machten, sie zu verhindern. Die müssen sich nun die Frage gefallen lassen, warum sie ihre Spitzenvertreterin einer so grundsätzlichen Frage nicht unterstützen. Von der Leyen wurde von der EVP erst in der vergangenen Woche offiziell als EVP-Kandidatin für eine zweite Amtszeit als Präsidentin der EU-Kommission aufgestellt. Aus EVP-Kreisen hieß es am Donnerstag, ein Eintreten gegen die Klage hätte als Unterstützung für Orbán missverstanden werden können. Grundsätzlich hätte man vor einer Klage eigentlich eine noch genauere juristische Prüfung vornehmen wollen.
Politische Gegner versuchten das Verfahren bereits in den vergangenen Tagen dafür zu nutzen, von der Leyen politischen Schaden zuzufügen. "Die Anklage ist mehr als peinlich für von der Leyen. Von der Leyen wandelt damit auf Donald Trumps Spuren, der seinen Präsidentschaftswahlkampf von der Anklagebank aus führen muss", spottete etwa der Vorsitzende der FDP im Europäischen Parlament, Moritz Körner. Daran sei sie aber selbst schuld, weil sie sich nicht daran störe, dass die europäischen Steuerzahler "Orbáns Familienclan" reich machten.
Ergebnis offen
Der Europarechtsprofessor und SPD-Europaabgeordnete René Repasi nannte die Klage vor dem Gerichtshof einen wichtigen Schritt, "um die Kommission beim Umgang mit innereuropäischen Autokratien zur Verantwortung zu ziehen". Der Grünen-Abgeordnete Daniel Freund warf der Kommission einen "Kuhhandel" vor. EU-Geld dürfe es nur dann geben, wenn der Rechtsstaat funktioniere.
Wie erfolgreich die jetzige Klage am Schluss sein wird, ist unklar. Der juristische Dienst des Parlaments war zuletzt in einem Gutachten zu den Chancen einer Klage zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen. Zunächst müsse das Parlament beweisen, dass die Kommission beim Erlass der Entscheidung Fehler gemacht habe, heißt es in dem Papier, das der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Es sei zu erwarten, dass "die Kommission ihrerseits eine solide Verteidigung vorbringt" und sich auf ihren Ermessensspielraum stützen werde.
Das Rechtsgutachten kommt zu dem Schluss, dass eine Klage mehrere Fragen aufwerfen würde, mit denen der EuGH noch nicht befasst war. Dies mache es schwer vorherzusagen, wie der Gerichtshof in einem solchen Fall entscheiden würde. Ein Urteil in dem Fall dürfte ohnehin frühestens im kommenden Jahr fallen, also lange nach den für Juni angesetzten Europawahlen und der Entscheidung über eine mögliche zweite Amtszeit von der Leyens.
Imageschaden befürchtet
Kritiker der Klageentscheidung sehen deswegen erhebliche Risiken. Das Vorgehen werde es Orbán ermöglichen, sich weiter als Opfer einer politischen Kampagne des Parlaments zu inszenieren. Zudem drohe im Fall eines Scheiterns der Klage auch ein erheblicher Imageschaden für das Parlament. Die geäußerte Hoffnung, dass die Mitgliedstaaten der Kommission über ein kompliziertes Entscheidungsverfahren in der Folge Kompetenzen entziehen könnten, sei vollkommen unbegründet – vor allem, weil die Entscheidung für die Freigabe der Mittel von einer großen Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten unterstützt worden sei.
Europaabgeordnete – auch solche aus Reihen der deutschen Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP – kritisierten die Freigabe des Geldes damals aber und warfen von der Leyen vor, sich von Ungarn erpressen zu lassen. Orbán hatte zuvor angekündigt, den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und ein milliardenschweres Hilfspaket der EU für das von Russland angegriffene Land zu blockieren.
Auf den Start der Beitrittsverhandlungen konnte sich schließlich beim Gipfeltreffen im Dezember verständigt werden. Das Hilfspaket wurde bei einem Sondergipfel Anfang Februar beschlossen.
- Nachrichtenagentur dpa