Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.EM-Klassiker in Wembley Die Angst vor dem Versagen ist bei England immer da
Es ist nicht das erste Duell bei einem großen Turnier zwischen England und Deutschland – und genau das könnte jetzt zum Vorteil für das Team von Bundestrainer Joachim Löw werden.
Als mir klar wurde, auf wen wir da im EM-Achtelfinale in Wembley treffen, musste ich mich sofort an ein paar ganz besondere Wochen zurückerinnern. Aber Achtung! Ich spreche nicht von 1996, als ich als Bundestrainer mit der Nationalmannschaft den EM-Titel in England gewann. Wir müssen weiter in die Vergangenheit gehen: ins Jahr 1966. Ich war blutjunge 20 Jahre alt, hatte gerade meine erste Saison als Fußballprofi bei Borussia Mönchengladbach absolviert.
Für den finalen WM-Kader des DFB im "Mutterland des Fußballs" reichte es noch nicht. Doch im Nachhinein betrachtet war das ein Glücksfall – denn meine Liebe für den englischen Fußball entwickelte sich nicht als Spieler auf dem Feld, sondern als Zuschauer. Und das habe ich vor allem meinem ehemaligen Gladbacher Trainer Hennes Weisweiler zu verdanken.
Er war es, der mich im Sommer 1966 anrief und fragte, ob ich mit ihm mit dem Auto durch England fahren will, um der deutschen Nationalmannschaft bei der WM nachzureisen. Ich sagte sofort zu. In den darauffolgenden Wochen tourte ich mit Weisweiler in dessen Auto über die Insel – ich am Steuer, neben mir mein Mitspieler Herbert Laumen, der Trainer mit seiner Frau auf dem Rücksitz
- DFB-Zwischenzeugnis: Die Noten der Nationalspieler
Und auch wenn mir relativ schnell klar wurde, dass Weisweiler wohl kein großer Fan des Linksverkehrs war und ich deshalb als kostengünstiger Chauffeur herhalten musste, möchte ich diese Zeit nicht missen. Wir fuhren durch tolle Städte, lernten unheimlich nette Menschen kennen und erlebten Fußballspiele in Stadien mit einer ganz besonderen Atmosphäre. Seitdem bin ich Fan des englischen Fußballs.
Und trotzdem drücke ich am Dienstagabend natürlich meiner deutschen Nationalmannschaft die Daumen.
Die Vorrunde ist abgehakt. Jetzt zählt's!
Und unsere aktuellen Nationalspieler müssen begreifen, welch ganz besonderes Privileg ihnen da zuteil wird. Das Wembley ist neben dem Maracanã in Rio de Janeiro der größte Fußballtempel dieses Planeten. Wer dort aufläuft, ist dazu verpflichtet, bis zum bitteren Ende zu kämpfen und alles dafür zu geben, um zu gewinnen. Noch mehr als sonst. Und England gegen Deutschland ist kein normales Fußballspiel, das ist ein echter Klassiker.
Die Engländer stehen unter Druck
Ich persönlich sehe in dieser Partie keinen klaren Favoriten. Die Chancen stehen 50:50. Aber unser Vorteil ist, dass die Vergangenheit klar für uns spricht – und Auswirkungen auf das aktuelle Geschehen hat. Was ich damit meine: Die Engländer stehen stärker unter Druck als wir Deutschen. Und umso länger es 0:0 steht, desto größer ist die Chance, dass Deutschland gewinnt. Denn England zittert vor dem Elfmeterschießen. Von Minute zu Minute werden sie nervöser werden. Das wissen die Spieler vielleicht jetzt noch gar nicht.
Aber spätestens, wenn in der zweiten Halbzeit das Elfmeterschießen immer näher rückt, kommen die alten Bilder wieder auf. Bei den Spielern, den Betreuern, und vor allem bei Trainer Gareth Southgate, der 1996 im Halbfinale gegen uns den entscheidenden Elfmeter verschoss. Die Angst vor dem Versagen ist bei den Engländern immer da. Das ist historisch begründet.
Und glauben Sie mir: Es nutzt auch nichts, wenn man im Vorfeld Elfmeterschießen übt. Das ist ein gewachsenes, mentales Problem. Der Druck ist enorm. Und so kann ein Heimspiel in Wembley für die Engländer ganz schnell zum Auswärtsspiel werden. Die mehrheitlich britischen Zuschauer werden ganz genau auf jeden einzelnen englischen Spieler schauen. Darum beneide ich sie nicht.
Bundestrainer Jogi Löw und sein Team hingegen haben nun die einmalige Chance, einen neuen Hype um die Nationalmannschaft zu entfachen. Ich bin mir sicher: Gewinnen wir gegen England, ist auch der EM-Titel für uns drin. Und das wünsche ich uns.
An diesem Punkt erinnere ich mich dann doch auch sehr gerne an den Titelgewinn von 1996 in England zurück – weil ich Parallelen zu heute erkenne: Auch wir hatten gegen Widerstände anzukämpfen. Auch wir gingen nicht als Topfavorit in das Turnier. Aber wir gaben trotz vieler Verletzungen nie auf, kämpften uns durch jede Partie, trotzten den Pöbeleien der britischen Presse, gewannen das Halbfinale nach Elfmeterschießen gegen England und erreichten das Finale.
Für mich persönlich aber wird nicht das 2:1 im Endspiel gegen Tschechien, sondern eben das Spiel gegen England für immer das mit Abstand wichtigste meiner Trainerkarriere bleiben. Denn etwas Größeres als diese Partie kann man als Fußballer bei einem Turnier kaum erleben.
Und genau das muss nun unseren aktuellen Nationalspielern bewusst werden.