Geld-vorsorge TK-Report: 90 Prozent aller neuen Medikamente taugen nichts
Hohe Kosten aber kaum Wirkung: Nur zwei von 23 im Jahr 2010 und Anfang 2011 auf den Markt gekommenen Medikamenten mit neuen Wirkstoffen bringen einen nennenswerten Fortschritt für die Behandlung. Dieses ernüchternde Fazit zieht der Innovationsreport 2013 der Techniker Krankenkasse (TK), den der Pharmazeut Gerd Glaeske von der Universität Bremen in Berlin vorgestellt hat.
Kein Zusatznutzen für Patienten
Für die Studie analysierten die Bremer Wissenschaftler jedes der 23 Medikamente im Detail und schlossen daraus, ob es einen Zusatznutzen für Patienten hat und wie hoch die Kosten im Vergleich zu bereits verfügbaren Behandlungen sind.
"Drei von vier Medikamenten, die wir unter die Lupe genommen haben, waren teurer als die bereits auf dem Markt befindlichen Präparate", sagte Glaeske. Das stehe im Widerspruch zum in den allermeisten Fällen fehlenden zusätzlichen Nutzen für die Patienten. Laut den Forschern gehe es häufig nur um "kommerzielle Innovationen", durch die Behandlungen teurer würden, ohne dass die Patienten einen Zusatznutzen hätten.
Die Motivation der Krankenkassen, über den Zusatznutzen neuer Medikamente Bescheid zu wissen, ist hoch. "Wir müssen das Geld der Versicherten optimal einsetzen. Optimal heißt nicht immer, weniger Geld auszugeben, das kann auch mehr sein", sagte TK-Chef Jens Baas. "Aber wir müssen wissen, was echte Innovationen sind."
Neues Gesetz untersucht Nützlichkeit
Seitdem das Arzneimittelneuordnungsgesetz (Amnog) gilt, wird der Zusatznutzen für die Behandlung ebenso untersucht wie die Frage, ob der Preis angemessen ist. Die im TK-Report untersuchten Medikamente aber wurden alle vor dem Inkrafttreten des Amnog zugelassen. "Das nachgewiesen geringe Innovationspotenzial dieser Arzneimittel macht deutlich: Die Amnog-Nutzenbewertung ist ein notwendiges Instrument, um echte therapeutische Innovationen zu fördern", sagte Versorgungsforscher Glaeske.
14 Medikamente sind "Scheininnovationen"
In der Analyse am besten schneidet der Wirkstoff Ticagrelor von AstraZeneca ab, ein Gerinnungshemmer, der nach Herzinfarkten eingesetzt wird. Das zweite innovative Medikament ist ein Wirkstoff für eine seltene Krebserkrankung, bei der vorher keine vergleichbare Behandlung verfügbar war. Acht weiteren Wirkstoffen bescheinigen die Forscher einen bedingten Zusatznutzen, 14 Arzneien sind dagegen Scheininnovationen.
Obwohl die TK-Prüfer über den Zusatznutzen der 23 Wirkstoffe ein vernichtendes Urteil fällen, sind zwölf der 23 Arzneimittel mittlerweile Bestandteil ärztlicher Leitlinien zur Behandlung der einschlägigen Krankheiten.
Regionale Unterschiede bei den Ärzten
Erstaunlich ist, dass Deutschlands Ärzte offensichtlich regional unterschiedlich zugänglich für neue Medikamente sind. Vor allem in den ostdeutschen Bundesländern sowie im Saarland, in Rheinland-Pfalz, Hessen und Schleswig-Holstein verordnen Ärzte häufiger neue Arzneimittel als andernorts.
Nebenwirkungen zeigen sich erst bei der Anwendung im Alltag
Gerade nach der Markteinführung von Wirkstoffen erfahren Hersteller und Zulassungsbehörden viel darüber, wie das Risikoprofil von Medikamenten unter realen Bedingungen aussieht. Anders als in Zulassungsstudien, in denen sorgfältig ausgewählte Patienten unter kontrollierten Bedingungen von speziell geschulten Ärzten die Wirkstoffe erhalten, offenbaren sich bei der Anwendung im Alltag mögliche Fallstricke: Wirkstoffe werden auch Patienten verschrieben, für die das Medikament nicht gedacht ist, Betroffene brechen die Therapie wegen Nebenwirkungen ab, seltene Zwischenfälle fallen zum ersten Mal auf.
Dramatisch war das beim Schmerzmittel Vioxx, als erst im alltäglichen Gebrauch deutlich wurde, wie sehr der Wirkstoff Rofecoxib das Risiko von Herzinfarkten und Schlaganfällen erhöht. Die Autoren des TK-Reports sprechen sich deshalb auch nur für eine Bewertung des Zusatznutzens lange nach der Markteinführung aus.
Uneinheitliche Bewertung des Zusatznutzen
Die Bewertung, welche neuen Medikamente einen Zusatznutzen erbringen, ist uneinheitlich. Während von Herstellern auch neue technologische Konzepte als innovativ bewertet werden, geht es für Patienten um den therapeutischen Fortschritt. Den Krankenkassen wiederum stellt sich die Frage nach den Mehrkosten im Verhältnis zum erzielten Behandlungserfolg.
Hier liegt ein deutlicher Kritikpunkt von TK-Chef Baas und Pharmazeut Glaeske: Die Kosten der neuen Medikamente wachsen schneller als der Zusatznutzen. Nach den Berechnungen Glaeskes ließen sich die Ausgaben für Medikamente im Bereich der untersuchten Neuzulassungen um knapp die Hälfte (47 Prozent) reduzieren, würden Ärzte bewährte und verfügbare Mittel nutzen. Es geht um ein Einsparpotenzial von 2,2 Milliarden Euro bei allen gesetzlichen Krankenkassen.