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"Team Wallraff": Jobcenter für Existenznot Vieler verantwortlich


"Team Wallraff" bei RTL
Unglaubliche Machenschaften in Jobcentern aufgedeckt

Von t-online
Aktualisiert am 17.03.2015Lesedauer: 3 Min.
"Team Wallraff" deckt unglaubliche Machenschaften in Jobcentern auf. (Screenshot: RTL)Vergrößern des Bildes
"Team Wallraff" deckt unglaubliche Machenschaften in Jobcentern auf. (Screenshot: RTL) (Quelle: leer)

Von Alexander Reichwein.

In deutschen Jobcentern herrschen unglaubliche Zustände. Personalmangel, Frust bei überforderten Mitarbeitern oder geschönte Statistiken auf Befehl aus der Chefetage. Günter Wallraff und sein Team haben Arbeitsvermittlungen ins Visier genommen und erheben nach ihren verdeckten Recherchen schwere Vorwürfe: Etliche Jobcenter kämen ihrem Auftrag, Langzeitarbeitslose zu beraten und durch gezielte Fortbildungsmaßnahmen wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern, nicht nach - und seien für die Existenznot vieler Menschen verantwortlich.

Wallraff und sein Team haben über mehrere Monate in zahlreichen Jobcentern mit vielen Betroffenen gesprochen: Mit Mitarbeitern, die unerkannt bleiben wollen aus Angst, ihren Job zu verlieren. Mit desillusionierten und hoffnungslosen Leistungsempfängern, die sich wie "Vieh" und "Dreck" behandelt fühlen, obwohl sie im Arbeitsamt-Jargon "Kunden" heißen. Und mit ehemaligen Mitarbeitern, die offen und schonungslos über ihre Erfahrungen berichten.

Aber nicht nur zu Lasten der Empfänger und der Antragsteller gehen die Zustände, sondern auch auf Kosten der Steuerzahler. Mit Milliarden Steuergeldern, so Wallraff, würden "absurde und entwürdigende Maßnahmen durchgeführt, Statistiken geschönt und Mängel verwaltet." Es wird ein System deutlich, für das Wallraff ein angemessenes Wort findet: "unmenschlich".

"Da passiert gar nichts" - außer absurde Maßnahmen

Betroffene gerieten in Existenznot, weil sich die Auszahlungen aufgrund der chronischen Unterbesetzung - laut Aussage einer Mitarbeiterin sei in vielen Jobcentern nur ein Viertel der Planstellen besetzt - und des hohen Krankenstandes der Mitarbeiter mitunter monatelang verzögerten. Fälle, in denen Leistungsempfänger Hunger litten oder kein warmes Wasser hätten, seien keine Einzelschicksale.

Viele Arbeitsvermittler geben zu, wie lange die Bearbeitungszeiten und wie uneffektiv die angebotenen Maßnahmen seien. Sie flüchten sich angesichts von Bergen an Anträgen, die aufgrund der Personalsituation gar nicht zu bewältigen seien, und unvermittelbarer "schwieriger Fälle", die gar nicht erst bearbeitet würden, in Sarkasmus.

Auch die Beratungsleistungen und Maßnahmen sind fragwürdig: Einer jungen gelernten Köchin wurde empfohlen, sich als Nageldesignerin zu bewerben. Und in einem Motivationsseminar für Langzeitarbeitslose über 50, das außer den anbietenden Dienstleistern, die dafür gutes Geld von der Bundesagentur erhalten, niemandem etwas bringt, wurde gespielt oder mit Lamas durch süddeutsche Wälder spaziert. Selbst die teuren Dozenten und Trainer, die allerhand Phrasen gegenüber ihrer Klientel zu dreschen wissen, konnten den Sinn dieser Übungen nicht darlegen. Wallraff findet dafür ein Wort: "absurd".

Chronische Unterbesetzung und geschönte Statistiken

Aber auch die Angestellten der Jobcenter leiden an dem System. Auf manchen Sachbearbeiter kommen bis zu 600 Langzeitarbeitslose, die betreut werden müssen. Das entspricht nicht den Vorgaben der Bundesagentur für Arbeit. Ein Arbeitsvermittler soll eigentlich maximal 150 Kunden betreuen.

Als Ausweg dienen geschönte Statistiken: So werden beispielsweise kranke Leistungsempfänger oder die Hundertausende, die gerade in Fortbildungsmaßnahmen sind, aus den Listen gestrichen - so lange, bis das Verhältnis aus Betreuer und "Kunden" und die somit manipulierten Statistiken wieder stimmen.

Akten verschwinden im Schredder

Eine Folge der immensen Belastung der Mitarbeiter durch befristete Arbeitsverträge, Leistungsquoten wie in Wirtschaftsunternehmen und Standortvergleiche der Chefs ist, dass Leistungsanträge liegen bleiben - oder Mitarbeiter die Post gleich ungeöffnet in den Papierkorb werfen oder Dokumente "verloren gehen". Oder ihre Wut an ihren Kunden auslassen. Unter den Frust mischt sich Aggression. Die Antragsteller werden als "asoziale und faule Betrüger" bezeichnet, die "umerzogen werden müssen".

Von gewaltsamen Übergriffen von Jobvermittlern auf Antragsteller berichtet eine Informantin ebenso wie von Beschimpfungen und Drohungen gegen Mitarbeiter. Viele müssten in psychologische Behandlung wegen des Drucks der Chefs und der Arbeitsbedingungen, ohne auf die Unterstützung ihres Arbeitsgebers zählen zu können. "Der Mensch bleibt auf der Strecke", lautet das nüchterne Fazit vieler Mitarbeiter in deutschen Jobcentern.

Verantwortliche wiegeln ab und beschönigen

Mit den Rechercheergebnissen konfrontierten Wallraff und sein Team die Verantwortlichen: Doch Frank-Jürgen Weise, Chef der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg, und sein Vorstandskollege Heinrich Alt verstecken sich hinter Phrasen und positiven Statistiken, die schnelle Bearbeitungszeiträume und viele erfolgreich vermittelte Langzeitarbeitslose aufweisen - und von den Jobagenturen selbst angefertigt werden.

Zwar gibt Weise zu, dass "mehr Personal wünschenswert sei". Aber Alt will keine sinnlosen Maßnahmen zur Wiedereingliederung von Leistungsempfängern erkennen. Und Fälle, in denen Mitarbeiter zugeben, unbearbeitete Anträge von Hartz-IV-Empfängern verschwinden zu lassen, nennt er "Einzelfälle", die das positive Gesamtbild nicht stören. Und in den unrealistischen Vermittlungsquoten für Angestellte in den Jobcentern sieht Alt "Herausforderungen im Beruf".

Wallraff sieht nun die Politik gefordert. Allerdings war Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) zu keiner Stellungnahme bereit.

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