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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Medienexperte zu Kritik an ARD-Beitrag "Das sehe ich als wirklich bedrohlich an"
Am öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist vieles zu kritisieren. Nicht aber, was am Montag in einem Beitrag im Ersten passiert ist, findet Medienexperte Jo Groebel.
Die ARD berichtete über eine umstrittene Werbemaßnahme des Discounters Penny. Für einen Beitrag in "Tagesschau" und "Tagesthemen" wurden Menschen befragt, die in einem der Märkte einkauften. Eine Kundin, die positiv über die Aktion sprach, erkannten Zusehende als WDR-Mitarbeiterin. Schnell kam es zum Aufschrei im Netz, von Agitation war gar die Rede. Medienexperte und Medienpsychologe Prof. Dr. Jo Groebel ordnet das als bedrohlich ein.
Im Gespräch mit t-online erklärt er: "Im Netz wüten jetzt genau diejenigen, die dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk sowieso die Pest an den Hals wünschen. Die sehen dahinter ein System und den Versuch der Manipulation. Das ist so ein Mist." Tatsächlich ist auf Twitter etwa von einem "inszenierten Interview" die Rede, um "die Kampagne positiv" darzustellen. Jemand bezeichnet den Vorfall als "Gefälligkeitsjournalismus für Links-Grün", und ein Nutzer fragt: "Wie viel Zufall steckt da wirklich drin?"
Geht es nach Groebel, so lenke diese Diskussion "nur von den wirklichen Problemen und Herausforderungen bei den Sendern ab". Dass hier "bereits so ein Aufstand entsteht und das als symptomatisch angesehen wird, halte ich für das eigentlich Problematische. Da beginne ich dann, mir Sorgen zu machen", erklärt der 72-Jährige weiter.
Prof. Dr. Jo Groebel
Er ist Medienexperte und Internetforscher sowie Mitbegründer der internationalen Medienpsychologie. Groebel war Lehrstuhlinhaber in Lehre und Forschung an zahlreichen deutschsprachigen und internationalen Universitäten.
Die ARD hat inzwischen das Interview mit der WDR-Mitarbeiterin aus dem Beitrag "Wahre Kosten" herausgeschnitten. Auf seiner Korrekturenseite gab der Sender an: "Die [...] gezeigte Sequenz hätte so nicht gesendet werden dürfen. Kolleginnen oder Kollegen zu interviewen, entspricht nicht unseren journalistischen Standards." Ergänzend hieß es: "Die O-Ton-Geberin war zufällig als Kundin in diesem Discounter."
Dazu passt auch, was Stefan Brandenburg, Chefredakteur Aktuelles beim WDR, auf Twitter schrieb: "Hätte der Reporter verstanden, dass er eine Kollegin vor sich hat, hätte er ihre kurze und spontane Reaktion niemals in den Beitrag aufgenommen. Ich bitte darum, das zu respektieren." Die gezeigte Kollegin treffe keine Schuld. Der Vorfall sei "so banal, so ärgerlich und peinlich für uns", doch "Fehler passieren, zumal unter Zeitdruck in der aktuellen Berichterstattung".
Für die Rundfunkanstalten der ARD arbeiten Tausende Menschen, nicht jeder könne jeden kennen, so Groebel. "Das sind Dinge, die können passieren zwischen zwei einzelnen Leuten, die einander unbekannt sind. Die Mitarbeiterin war vielleicht müde, der Reporter hat sie nicht richtig verstanden. Die Erklärung, die nach dem Vorfall veröffentlicht wurde, ist also durchaus plausibel."
Ein kleiner Kratzer in der Glaubwürdigkeit des ÖRR
Dennoch findet Groebel, dass der Vorfall "die Glaubwürdigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien jetzt selbstverständlich etwas" ankratze – "zumal es im Flaggschiff der deutschen Nachrichtenberichterstattung passiert ist. Das ist ernst zu nehmen, auch wenn es unbeabsichtigt geschah, und dafür muss intern ein noch größeres Bewusstsein geschaffen werden."
Die echten Probleme des ÖRR gingen durch diese Debatte jedoch unter. Es gebe viele Gründe, diesen zu kritisieren – etwa aufgrund "der Vielzahl von Radiosendern, die mehr oder weniger das Gleiche senden, oder wegen eigener Tiersendungen in jedem dritten Programm", erklärt Groebel. Er sagt: "Da besteht oft ein mangelndes Bewusstsein für den richtigen Umgang mit Gebührengeldern. Aber die Unterstellung, dass in den 'Tagesthemen' und der 'Tagesschau' systematisch getrickst und manipuliert wird, sehe ich als wirklich bedrohlich an."
Wenn Groebel sagt, er sehe das als bedrohlich an, dann "im Sinne von dem, was wir in den USA seit vielen Jahren erleben: dass von vielen Seiten ein Dauermisstrauen gegenüber Medien geschürt wird und die politische Polarisierung immer größer wird".
Aus psychologischer Sicht ist das Handeln vieler Zuschauerinnen und Zuschauer laut Groebel damit zu erklären, dass die Menschen etwas "reflexhaft sofort im Sinne der eigenen Vorurteile [interpretieren] und das aufbauschen". Eine kritische Einstellung zu bestimmten Medien und Menschen sei häufig vollkommen verständlich, doch "sollte man trotzdem zweimal hinschauen, um dann manchmal zu bemerken, dass etwas wirklich nur unbeaufsichtigt geschehen ist".
- Gespräch mit Medienexperte und Medienpsychologe Prof. Dr. Jo Groebel.
- ARD: "Tagesthemen" und "Tagesschau" vom 31. Juli 2023
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