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Alli Neumann: "Meine Schwester verurteilt mich nie"


Alli Neumann
Zwischen Elite und geklauten Bierdeckeln

InterviewVon Julia Reinl

Aktualisiert am 27.11.2023Lesedauer: 6 Min.
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Alli Neumann: "Es ist schlimm, wenn queere Rechte angegriffen werden"Vergrößern des Bildes
Alli Neumann: "Es ist schlimm, wenn queere Rechte angegriffen werden" (Quelle: Stephie Braun)

Die Sängerin Alli Neumann spricht emotional über ihre Beziehung zu Mutter und Schwester, über Polen und darüber, wie sie der geheimen Bundestagskneipe Bierdeckel entführt hat.

Ihre neon-orangefarbenen Haare wippen hoch und runter, während sie entlang einer großen Berliner Straßenkreuzung einige Schritte auf und ab läuft. Sie trägt einen Kapuzenpullover, eine Schlaghose und Sneaker mit klobiger Sohle. Alles in Schwarz. Ihre eine Hand umklammert einen Coffee-to-go-Becher. Mit der anderen Hand hält sie ein Smartphone vor ihr Gesicht und spricht hinein.

Alli Neumann kommt in Begleitung ihrer Managerin Misla Tesfamariam zum Gespräch mit t-online. "Alli liebt FaceTime", verrät die Managerin. Die beiden wirken vertraut, wie enge Freundinnen. Sie scherzen miteinander, lachen laut und herzlich.

Als Kind lebte Alina-Bianca "Alli" Neumann einige Jahre in Polen, bevor sie nach Nordfriesland zog, mit 14 die Schule abbrach und für ihren ersten Plattenvertrag nach Hamburg ging. 2018 erschien ihre erste EP "Hohes Fieber", 2021 verarbeitete sie in ihrem Album "Madonna Whore Komplex" die Themen Sexismus, Identität und Integrität. Sie sagt, dass sie Musik über alles liebe und dass sie keine Erinnerung an eine Zeit habe, in der sie nicht Musikerin hätte werden müssen. "Und das hat dann irgendwie geklappt."

Während des Interviews setzt Alli Neumann ihre Kapuze wiederholt auf und ab, ist etwas aufgedreht. Wenn die Sängerin über ihre Schwester und ihre Mutter spricht, wird sie ruhiger und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Beiden hat sie auf ihrem neuen Album "Primetime" jeweils einen Song gewidmet.

t-online: In "Lebenswerk" singen Sie: "Die Welt ist grausam, doch Mama, du hast mir gezeigt, wie man sie trotzdem liebt." Ist es gerade besonders schwer, die Welt zu lieben, und wie geht das?

Alli Neumann: In den letzten Tagen war es besonders schwer. Wenn wir über Weltschmerz sprechen, hilft es mir, Dinge zu tun, bei denen ich sehe, dass Veränderung möglich ist. Es zerreißt mir das Herz, Menschen ohne Obdach neben uns verkümmern zu sehen, obwohl wir in einer Gesellschaft leben, in der es Wohlstand gibt. Es kann beklemmend sein, das mitzubekommen. Mir gibt es Hoffnung, mich ehrenamtlich zu engagieren und zu sehen, dass ich gemeinsam mit anderen Menschen etwas dagegen tun kann. Mit meiner Reichweite kann ich für Sichtbarkeit von Organisationen und Vereinen sorgen, zum Beispiel für Fridays for Future oder das Human Rights Festival.

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Den Song haben Sie für Ihre Mutter geschrieben. Welche Rolle spielt sie in Ihrem Leben?

Heute macht sie mir morgens keinen Kakao mehr, so wie früher (lacht). Unser Verhältnis hat sich natürlich verändert. Und es verändert sich die ganze Zeit, weil ich an mir arbeite und hoffe, dass ich noch netter werde. Es wird eine immer freundlichere Beziehung. Ich rufe sie jeden Tag per FaceTime an. Es gibt mir viel, wenn ich ihr kleines, putziges Gesicht auf meinem Bildschirm sehe. Oder wenn sie ihr Ohr in die Kamera hält. Ich lasse mir einmal meine Hündin, die gerade bei ihr ist, zeigen und erinnere sie daran, meine Blumen zu gießen.

Ihre Mutter ist Polin, Sie selbst haben als Kind in Polen gelebt. Wie blicken Sie heute auf das Land?

Es ist schlimm, wenn die Demokratie, demokratisch-liberale Werte, queere Rechte und Frauenrechte angegriffen werden. Gerade bin ich guter Dinge, dass dieses Mal nicht die PiS, sondern die PO an die Regierung kommt. Damit würden wir wieder einen großen Schritt mehr in Richtung Demokratie und Freiheit machen.

Warum sind Ihnen die Rechte für queere Menschen so wichtig?

Queere Rechte sind mir einerseits aus Eigennutz wichtig. Ich habe mitbekommen, was es bedeutet, in einem homophoben Land zu leben. Meine Cousine aus Polen hat sich das Leben genommen. Sie erlebte mehrere Angriffe in Irland auf der Straße in den zwei Jahren vor ihrem Tod. Einmal musste sie sogar ins Krankenhaus. Deswegen weiß ich, dass queere Rechte nicht selbstverständlich sind. Und ich weiß, wie schnell die Situation in Polen gekippt ist. Zumindest von der Regierung aus war es da vorher sicherer.

In Ihren Liedern geht es auch oft um die Liebe, um Herzschmerz, aber auch um Selbstliebe. Kann man sich selbst mehr lieben als das Gegenüber und sollte man das überhaupt?

Du musst deine eigenen emotionalen Kräfte für dich sammeln, damit du für jemand anderen überhaupt da sein kannst. Du musst erst mal sichern, dass du cool bist und dass bei dir alles ok ist. Seitdem ich ein besseres Selbstbewusstsein habe, werden dadurch auch andere Beziehungen besser. Unsicherheiten oder die Liebe von der anderen Person nicht annehmen zu können, belastet eine Beziehung. Am wichtigsten ist es, zuerst an der Beziehung zu sich selbst zu arbeiten – vor allem, wenn man romantische Beziehungen eingehen möchte.

Handelt "So wie du" von so einer romantischen Beziehung?

Nein, es geht darin nicht um eine romantische Beziehung. Mir fällt gerade erst auf, dass das Wort "Freundin" bei einer queeren Person nicht eindeutig zu verstehen ist (lacht).

Für wen haben Sie den Song, der von einer Freundin erzählt, die Sie sogar Ihren Feinden wünschen, dann geschrieben?

Meine Schwester meinte einmal zu mir, dass es unzählige Liebeslieder gibt, die romantische Beziehungen besingen, aber kaum solche über Freundschaften oder familiäre Beziehungen. Dabei können diese Beziehungen dich darüber hinwegtragen, wenn eine romantische nicht funktioniert hat. Für viele Menschen ist eine romantische Beziehung je nach Lebensphase oder sexueller Orientierung auch nicht interessant. Trotzdem steht sie oft im Fokus. Es ist schön, dass sie für viele Menschen Priorität hat. Aber es ist genauso wichtig, sich auf andere stabile Beziehungen zu fokussieren und dankbar dafür zu sein. Deswegen habe ich meiner Schwester dieses Lied geschrieben.

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Gehen Sie zu Ihrer Schwester, wenn es Ihnen nicht gut geht – fühlen Sie sich bei ihr aufgehoben in einer Art Safe Space?

Ja total. Meine Schwester verurteilt mich nie, ist wohlwollend und hat trotzdem Ansprüche an mich. Zu wissen, dass ich so bedingungslos geliebt werde, gibt mir viele Freiheiten. Den Weg, Musik zu machen, bin ich trotz vieler Unsicherheiten gegangen. Das hätte ich mich nicht getraut, hätte ich nicht gewusst, dass sie mein Back-up ist. Und es ist schön zu wissen, ich habe mit ihr jemanden, da kann ich immer schlafen, da kann ich immer hin – egal was passiert.

Ich sehe Tränen in Ihren Augen, was berührt Sie gerade so?

"Lebenswerk" und "So wie du" handeln von den mitunter wichtigsten Beziehungen in meinem Leben. Ich hatte lange Angst davor, Lieder für meine Mutter oder für meine Schwestern zu schreiben. Wenn sich etwas so groß anfühlt wie diese Gefühle, dann will ich den Gefühlen, der Person und der Beziehung mit dem Lied auch gerecht werden.

Wie haben Sie es geschafft, diese Angst abzulegen?

Durch meine Teilnahme an "Sing meinen Song" habe ich mich getraut, etwas so Direktes und Emotionales anzusprechen. Ich habe gemerkt, wie gut es sich anfühlt und welche Stärke dahinter liegt, etwas direkt und auf den Punkt zu sagen – und eben nicht lyrisch Pirouetten um ein Thema zu tanzen. Ich bin sehr froh, dass meine Mutter und meine Schwester sich darüber freuen, dass ich das festgehalten und unsere Beziehung so konserviert habe.

Wenn Sie Ihre Gefühle so unmittelbar teilen, machen Sie sich dann Gedanken darüber, was andere über Sie denken?

Ich bin selbst kulturell aufgewachsen in einer Musikszene, die selbst sehr elitär war und in der Musik etwas Elitäres war. Ich habe versucht, an meinem eigenen Verständnis von Musik zu arbeiten. Ich hatte Angst davor, dass es vielleicht einen Teil gibt, der abwertend sagt: Jetzt macht Alli Popmusik. Ich möchte mich von dieser Angst nicht limitieren lassen. Es war für mich eine Herausforderung, mich davon freizumachen, was die Szene über mich denkt.

Wie schaffen Sie es, diese Gedanken wegzuschieben?

Ich gucke mir empowernde Videos von Beyoncé an. Darin wird mit einem anderen Verständnis über Popmusik debattiert, ohne Perspektiven, die meinen: "Alle sind Sellouts " oder "Sie war nur cool, als sie keiner kannte". Musik ist nichts Elitäres. Musik sollte etwas sein, das jedem Menschen zusteht. Jedes Genre, Pop, R'n'B, Avantgarde-Rock oder klassische Musik, hat seine Berechtigung in dem Moment, in dem es Menschen berührt.

Sie haben neben sehr persönlichen und emotionalen auch tanzbare Lieder auf dem neuen Album. Wann haben Sie zuletzt das "Berlin Nightlife" gelebt?

Gestern. Die beiden Bierdeckel hier in meiner Tasche, die habe ich aus der Bar im Parlament "mitgenommen". Ich habe dort gesungen und einen Talk mit der Bundestagsabgeordneten Luise Amtsberg gehalten. Misla hatte einen Stand zu intersektionalem Feminismus in der Musik- und Kulturbranche. Später sind wir in einer Kellerkneipe direkt beim Bundestag gelandet. Dort treffen sich Parlamentarier, trinken, und man darf auch rauchen. Urig.

Sind Sie in der Bundestagskneipe die "Cool Kids" gewesen, über die Sie auch singen?

Ich bezeichne in dem Song mit dem Begriff "cool kids" Leute, die judgy sind, exklusiv sein wollen und Menschen ausschließen. Das will ich gar nicht sein. Ich möchte lieber inklusiv sein.

Anmerkung der Redaktion: Das Gespräch wurde unmittelbar nach den Angriffen der Hamas auf Israel und wenige Tage vor den Wahlen in Polen geführt.

Verwendete Quellen
  • Gespräch zwischen Alli Neumann und t-online
  • laut.de: Alli Neumann
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