Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Zum Tode von Martin Walser Er hat es geschafft: das Sterben
Martin Walser war der letzte aus der Riege der deutschen Großschriftsteller. Wortmächtig war er und streitlustig, er liebte das Missverständnis und beklagte, missverstanden zu werden. Und natürlich hätte er den Nobelpreis verdient.
Wenn ein Schriftsteller stirbt, stirbt seine Stimme, seine Sprache mit ihm und die Welt wird ärmer. Wenn ein Schriftsteller wie Martin Walser stirbt, dann steht die Welt für diejenigen für mehr als einen Augenblick still, die mit ihm und seinen Büchern und seiner Streitlust aufgewachsen sind. Seine Romanfiguren ziehen im Gedächtnis noch einmal vorüber wie liebenswerte Zeitgenossen, denen wir begegnet sind und die uns eine Wegstrecke begleitet haben. Sie sterben mit ihrem Autor und leben in uns weiter. Eigentlich ein tröstlicher Gedanke.
"Ich beneide jeden, der es geschafft hat"
Uralt ist er geworden, 96, und war nicht immer glücklich darüber. Zu seinem 90. Geburtstag fiel ihm ein, er sei nicht rechtzeitig gestorben. Wie so oft bei ihm wusste man nicht so recht, ob es Koketterie war oder Trauer, Spielerei oder Ernst. Die Beschäftigung mit dem Tod ließ ihn nicht los, was ja auch kein Wunder ist, denn wer so alt wird, dem bleibt nur noch diese letzte Veränderung. "Ich beneide jeden, der es geschafft hat. Das Sterben." So schrieb er in der "Zeit", als Marcel Reich-Ranicki im Jahr 2013 starb.
Martin Walser hat sie alle überlebt und offenbar war es ihm keine Genugtuung. Er ist der letzte Vertreter seiner Generation, vor dem Krieg geboren, noch als Flakhelfer eingezogen und von der deutschen Schuld geprägt. Heinrich Böll war der Inbegriff des rheinischen Melancholikers; er starb vor 38 Jahren, 1985. Günter Grass war das Junggenie und ein kreatives Kraftpaket mit Wurzeln in Danzig und im Kaschubischen; er starb vor acht Jahren, im Jahr 2015.
Böll wie Grass bekamen den Literaturnobelpreis. Walser hätte ihn für sein gewaltiges Werk verdient gehabt. Als ihn Elfriede Jelinek überraschend im Jahr 2004 erhielt, beobachtete der "Spiegel" seine Reaktion auf der Frankfurter Buchmesse: "Als Martin Walser das Gerücht hört, dass er den Nobelpreis für Literatur nicht gewonnen hat, erstarrt er für einen langen Augenblick. Sein Gesicht wird zu Marmor, glatt, reglos, undurchdringlich. Er schweigt, dann sieht es so aus, als richte er ein paar Worte an sich selbst. Er nickt."
Was sollte er auch nach außen sagen? Sollte er sich beschweren? Die Ignoranz beklagen? Versteht sich ja von selber, dass sich jemand wie Walser fragte: Warum die, warum nicht ich? Dann auch noch Peter Handke 2019. War das gerecht? Natürlich nicht, aber die Reihe der Unberücksichtigten ist nun mal länger als die Reihe der Preisträger. Kein Trost, nur eine Tatsache.
Nicht, dass Martin Walser eine dicke Haut gehabt hätte, im Gegenteil. Nicht nur war er beneidenswert sprachmächtig, er suchte auch den Streit, den Konflikt, den Zweikampf, er lebte auf darin. Als der Großkritiker Marcel Reich-Ranicki, auch ein Könner des Wortkrieges, von der Bewunderung der Walserschen Prosa in die Verächtlichmachung überging, schlug der Schriftsteller zurück und gab sich keine Mühe mit literarischer Sublimierung in "Tod eines Kritikers". Schlüsselromane gehören in die niedere Kunstgattung. Rache ist keine Kunstform.
Eine andere Zeit, eine andere Welt
Lang ist’s her. Man muss schon im fortgeschrittenen Alter sein, um sich an diese Fehden, die Lieben und Geliebten von Walser und seinen Freunden, die Vorkommnisse auf Sylt und die Widerspiegelung in Romanform zu erinnern. Eine andere Zeit, eine andere Welt. Dem Schriftsteller wird man eher gerecht, wenn man ihm noch mal in sein Revier folgt, den Bodensee, die elterliche Wirtschaft in Wasserburg, in der er schon als Zwölfjähriger Gedichte schrieb. Diese Weltgegend gab ihm den Stoff für seine Epik. In Dankbarkeit lebt sie in seinen Büchern für immer fort.
Seine Romanfiguren sind ungemein mit sich selber beschäftigt. Sie scheitern am Gegensatz zwischen Ich und Nicht-Ich, zwischen den Wünschen und den Möglichkeiten. Sie sind nicht gar so sensibel wie die Helden oder Anti-Helden bei Heinrich Böll oder Siegfried Lenz. Bei Bert Brecht steht der erhellende Satz: Doch für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Damit ist Walsers Personal ganz hübsch eingefangen.
Als Zäsur im öffentlichen Leben des Martin Walser erwies sich seine Dankesrede für den Friedenspreis des Buchhandels im Jahr 1988 in der Paulskirche, dem Gral der deutschen Demokratie. Ehrlich gesagt, habe ich bis heute nicht verstanden, was uns Martin Walser eigentlich sagen wollte. Er redete wie erwartet über die deutsche Schuld, womit immer der Krieg und die Verbrechen und Auschwitz gemeint waren. Die Erinnerung daran war das Lebensthema seiner Generation. Wehe, er hätte sich darum gedrückt.
Dann aber tauchte sie in seinen Sätzen auf: die Moralkeule der deutschen Schuld. Stille in der Paulskirche. Ungläubiges Staunen. Walser will die Schuld los haben? Er distanziert sich von den Schuldgläubigen. Ich habe mir den Auftritt so zurechtgelegt, dass Martin Walser wie in einem inneren Monolog darlegte, was ihm durchs Gemüt zog, eben die Schuld und die Verzweiflung darüber samt dem irrealen Wunsch, davon befreit zu sein.
Die Aufregung war ungeheuerlich. Die Moralkeule schlug alles nieder. Dagegen kam nichts an. Die Öffentlichkeit war damals solide linksliberal gestimmt und kündigte Martin Walser die Mitgliedschaft im feinen Klub. Wie immer schwang Heuchelei und die Lust am Missverständnis mit. War nicht dieser Walser auch einer von denen, die an der deutschen Teilung litten? Und hatte er nicht früher Sympathie für die DKP bekannt? Igitt.
Deutsche Schriftsteller wie Walser/Böll/Grass waren politische Menschen. Sie irrten sich, lagen daneben und hatten oft recht, was denn auch sonst. Die Zeiten änderten sich und sie sich mit ihnen, Walser mehr noch als die beiden anderen. Lebensgeschichtlich waren sie stark an die alte Bundesrepublik gebunden. Grass kritisierte die Wiedervereinigung giftig. Walser begrüßte sie wie sein alter Freund Rudolf Augstein, der "Spiegel"-Gründer und -Patriarch. Alte Freundschaften unter den hochmögenden Herren zerbrachen. So ist das, wenn die Geschichte bebt.
Vergangen, verweht. Heute hat es Martin Walser geschafft. Das Sterben. Wir sind ärmer ohne ihn.
- Eigene Recherche