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Michael Groß fordert Sport-Revolution: "Es braucht einen radikalen Wandel"


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Groß' Olympia-Plan
"Wenn Deutschland in die Top 5 will, braucht es einen radikalen Wandel"

  • T-Online
InterviewVon Alexander Kohne

08.08.2021Lesedauer: 7 Min.
Michael Groß: Der 57-Jährige holte als aktiver Schwimmer dreimal Olympiagold und zahlreiche WM-Titel.Vergrößern des Bildes
Michael Groß: Der 57-Jährige holte als aktiver Schwimmer dreimal Olympiagold und zahlreiche WM-Titel. (Quelle: Laci Pereny/Peter Kolb/Passage/imago-images-bilder)

Deutschland ist im Olympia-Medaillenspiegel nur noch Neunter – ein Absturz, der sich lange angekündigt hat. Schwimm-Ikone Michael Groß schaut besorgt auf diese Entwicklung und fordert eine Revolution im deutschen Leistungssport.

Bei den Olympischen Sommerspielen 1992 in Barcelona holte das deutsche Team 82 Medaillen und landete auf Platz drei des Medaillenspiegels. Seitdem ging es steil bergab. Bei den am Sonntag zu Ende gehenden Spielen in Tokio stehen nur noch 37 Medaillen und Platz neun für den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) zu Buche.

Dreifach-Olympiasieger Michael Groß macht diese Entwicklung nachdenklich. Der 57-Jährige kennt die Strukturen im deutschen Leistungssport genau, war von 2000 bis 2005 Präsidiumsmitglied im Nationalen Olympischen Komitee (NOK), in dem der olympische Leistungssport organisiert war.

t-online: Herr Groß, mit zehn Gold-, elf Silber- und 16 Bronzemedaillen hat das deutsche Team die Bilanz von Rio 2016 (17/10/15) verpasst. Wie bewerten Sie das Abschneiden?

Michael Groß: Ich sehe die Medaillenbilanz immer als Gesamtergebnis, denn zwischen Gold, Silber und Bronze liegen manchmal Kleinigkeiten. In Rio gab es 42 Medaillen bei 306 Wettbewerben. In Tokio gab es nun 339 Wettbewerbe. Um genauso erfolgreich zu sein wie 2016, hätte Deutschland 46 statt nun 37 Medaillen holen müssen. Relativ liegt man also 20 Prozent unter dem Ergebnis von Rio. Es ist leider absehbar, dass der deutsche Medaillenanteil weiter kontinuierlich sinken wird. Diesen Trend gibt es seit den 90er-Jahren.

Wird Deutschland im Medaillenspiegel in den nächsten Jahren noch weiter zurückfallen?

Nein, das muss nicht sein. In einigen Sportarten wird Deutschland immer Olympiasieger und Medaillengewinner hervorbringen. Und zwar da, wo es um Technik geht und einer besonderen Infrastruktur bedarf. An erster Stelle ist da Reiten zu nennen, oder auch Rudern und Kanu – das kann einfach nicht jedes Land. Durch diese Sportarten wird Deutschland immer rund 20 Medaillen gewinnen. Wenn man sich damit zufriedengibt, reicht das jedoch nicht, um bei Sommerspielen unter den Top 10 zu bleiben. Wenn das Ziel lautet, langfristig wieder unter die Top 5 zu kommen, dann braucht es an der Spitze einen radikalen Wandel, eine deutliche Strukturreform.

Im Fazit des DOSB in Tokio wurde resigniert festgehalten, dass die Leistungssportsteuerung in anderen Ländern deutlich einfacher ist als bei uns. Es soll versucht werden, die ausufernde Bürokratie zu optimieren. Der Versuch des DOSB dauert bereits 15 Jahre! Optimieren geht nicht! Denn innerhalb des DOSB mit seinen vielfältigen internen Verflechtungen ist schlicht keine Entbürokratisierung möglich. Das geht nur in einer eigenständigen Struktur, die professionelle Entscheider und Leistungsträger eng koppelt. Das eigentliche Problem für die aktuellen Entscheider ist: Es würden etliche ehrenamtliche Posten überflüssig.

Michael Groß: In den 1980er-Jahren holte der Ex-Schwimmer dreimal Olympia-Gold und wurde als "Albatros" international bekannt. Danach machte er seinen Doktor in Philologie und arbeitete als Journalist. Mittlerweile ist Groß Buchautor, Unternehmensberater und Coach für Führungskräfte.

Wie müsste diese Reform aus Ihrer Sicht aussehen?

Im Dezember wird ein neuer DOSB-Präsident gewählt. Deshalb wird aktuell mal wieder viel über Politik und Posten geredet. Aus meiner Sicht ist etwas anderes viel wichtiger: Nach Olympia sollten wir eine neue Struktur und Strategie für den Leistungssport in Deutschland umsetzen. Ich verfolge das seit 20 Jahren und war als Präsidiumsmitglied des Nationalen Olympischen Komitees auch aktiv involviert. Damals wurden NOK und Deutscher Sportbund (DSB) zum DOSB fusioniert. Ich war dagegen. Bis heute hat mir niemand erklären können, wo der inhaltliche Vorteil ist, alle Themen im Sport, den Breiten- und Leistungssport in einen Topf zu werfen.

Wenn Deutschland zurück in die Top 5 möchte, braucht es eine eigene, schlanke Struktur für den olympischen Leistungssport. Diese müsste so weit wie möglich eigenständig agieren. Das geht nur, indem die Profis keine ehrenamtliche Steuerung mehr haben, die letztlich entscheidet. Unter dem Strich wäre es das, was bei der Fusion zum DOSB damals als Alternative diskutiert worden ist: nämlich das NOK als eigenständige professionelle Organisation für den Leistungssport stark zu machen.


Könnten Sie das anhand eines Beispiels ein bisschen fassbarer machen?

Natürlich. Aktuell arbeitet der DOSB etwa so, als ob Mercedes sein Formel-1-Team – den Leistungssport – wie eine normale Autofabrik – den Breitensport – steuern würde. Mit so einer Struktur kann jedes Formel-1-Team einpacken. Natürlich fährt man noch irgendwie mit, weil man grundsätzlich weiß, wie man einen Rennwagen baut. Aber man ist nicht in der Lage, schnell und umfassend auf neue Wettbewerbssituationen zu reagieren. Anders gesagt: Der Tanker DOSB ist viel zu träge, um schnell und gezielt auf die Bedürfnisse der einzelnen Sportarten einzugehen. Erneut in die Autowelt übersetzt heißt das: Der DOSB ist im Leistungssport ein Auslaufmodell.

Mal abgesehen von der Struktur – was wäre noch wichtig, um im Medaillenspiegel wieder nach vorne zu kommen?

Eine klare Strategie im Hinblick auf die Sportarten. Das ist nicht schwer. Da wären zuerst die technischen Sportarten wie Kanu, Rudern und Reiten. Diese werden – wie beschrieben – immer wieder Medaillengewinner hervorbringen und müssen entsprechend weiter gefördert werden.

Darüber hinaus müssten wir uns auf Sportarten mit hohem Medaillenpotenzial fokussieren. Allen voran auf Schwimmen – und zwar im Becken. Das müssen wir massiv nach vorne pushen. Und das sage ich nicht, weil ich früher Schwimmer war, sondern weil dort gut zehn Prozent aller Olympiamedaillen vergeben werden (bei 35 von 339 Wettbewerben in Tokio). Alle Topnationen gewinnen Minimum sechs bis acht Medaillen dort oder mehr. Das bedeutet: Wenn man in den Top 5 landen will, kann man sich kein schwaches Schwimmen leisten.

Mit den Bronzemedaillen von Sarah Köhler und Florian Wellbrock wurde ein guter Anfang gemacht. Allerdings sind sie auf der Langstrecke unterwegs. 27 Disziplinen im Schwimmen sind auf Kurz- und Mittelstrecken. Mit relativ wenigen Athleten bekommt man da viele Medaillen zusammen. Das beweisen andere Nationen.

Stehen weitere Sportarten in Ihrem Fokus?

Ja, die zweite Baustelle ist die Leichtathletik. Da geht es auch um alles, was mit Technik zu tun hat – vor allem Werfen und Springen. In diesen Disziplinen ist Deutschland traditionell stark. Auch hier müssen eine besondere Infrastruktur und Wissen vorhanden sein, die es nicht überall gibt. Außerdem gibt es wiederum vergleichsweise viele Medaillen zu holen.

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Großbritannien hat im Zuge der Olympischen Spiele in London 2012 ein besonderes Augenmerk auf Radsport gelegt. Wie steht es damit?

Das wäre das nächste Feld. Gerade der Bahnradsport weist ähnliche Spezifika wie die vorherigen Beispiele auf. Denn das kann ebenfalls nicht jeder betreiben, weil es nicht in so vielen Ländern entsprechende Bahnen gibt – ähnlich wie bei den Winterspielen im Rodeln. Zusammengefasst: Wenn man zurück in die Top 5 möchte, ist es ziemlich klar, wie dies zu erreichen ist. Es braucht die passende Struktur, schlanke Abläufe und zudem einen starken Wettbewerb im eigenen Land. Deutschland kann das vorhandene Potenzial für die Top 5 aktivieren, statt sich selbst im Weg zu stehen.

"In einem Land, in dem ein Olympiasieger 20.000 Euro Prämie bekommt und ein Dschungelkönig 150.000, sollte sich niemand über fehlende Medaillen wundern", hat Ex-Schwimmer Steffen Deibler über die Siegprämien in Deutschland gesagt. Müssen diese erhöht werden, um gerade auch junge Menschen für den Leistungssport zu begeistern?

Wichtig ist: Niemand, der in jungen Jahren mit Leistungssport beginnt, denkt an Siegprämien. Kinder fangen auch nicht an, Fußball zu spielen, weil sie irgendwann mal als Profi zehn Millionen Euro pro Jahr verdienen möchten. Es geht zunächst um den Spaß am Sport und Wettkampf. Wir haben in den 1980er-Jahren 15.000 Mark bekommen. Das war ganz nett, eine kleine Anerkennung, aber deswegen macht man das Ganze nicht. Mittlerweile werden sogar im Schwimmen bei Weltcups bis zu 50.000 Dollar gezahlt – in Relation dazu sind 20.000 Euro für einen Olympiasieg eher bescheiden, nicht mehr zeitgemäß. Ich sehe eher ein anderes Problem.

Welches?

Im Leistungssport ist die Abbrecherquote beim Übergang von Schule zu Berufsausbildung zu groß. Da gehen viele Talente verloren. Deutschland ist im Jugend- und Juniorenbereich weltweit wesentlich besser als im Seniorenbereich. Ich kann Jugendliche verstehen, die entscheiden: "Meine Berufsausbildung geht einfach vor." Denn niemand kann allein über den Olympiasieg seinen Lebensabend verdienen. Deshalb haben wir diese hohe Abbrecherquote.

Was könnte man dagegen tun?

Da ist einerseits der Staat gefordert – beispielsweise über eine Anerkennung der Zeit im Nationalkader für die Rentenversicherung. Aber solche Diskussionen sind in Deutschland schwierig. Das Argument lautet: Leistungssport ist die Privatsache des einzelnen Sportlers.

Ein schon ewig ungelöstes Thema ist zudem die Vereinbarkeit von Leistungssport und Studium. Das ist extrem abhängig von den Professoren und Prüfungsämtern. Ich bin selbst Lehrbeauftragter an der Universität Frankfurt und bekomme mit, wie schwierig das vor allem bei Prüfungen ist. Das war zu meiner aktiven Zeit schon schwierig – und ich habe mir am Semesteranfang die Kurse rausgesucht, bei denen die Prüfungen garantiert nicht während großer Wettkämpfe waren. Das ist heute mit Bachelor und Master noch diffiziler geworden. Deshalb kann ich den Sportlern nur empfehlen: Nutzt die beste Leistungssportförderung der Welt – das amerikanische Collegesystem!

Warum?

Eine vierstellige Zahl der Tokio-Starter kommt aus dem US-Collegesystem. Das sagt alles. Dort gibt es einfach die besten Voraussetzungen, um Leistungssport und eine universitäre Ausbildung zu kombinieren. Dazu kommt der hohe Stellenwert des Sports an den einzelnen Hochschulen – weshalb die besten Sportler mit Sportstipendien gelockt werden.

So wie die 18-jährige Torri Huske, die als Gymnasiastin, die in der Schule trainiert, über 100 Meter Schmetterling Vierte geworden ist, Silber in der Lagenstaffel gewonnen und ein Stipendium an der Stanford University im Silicon Valley bekommen hat. Teilweise sind diese Stipendien Hunderttausende Dollar wert. Der Anreiz, auf diese Weise an die Top-Unis zu kommen, ist eine unschlagbare Motivation.

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