Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Vor Ort bei der WM Ein mulmiges Gefühl
Wer sich in Katar bewegt, erlebt die typische WM-Stimmung. Doch bei einem Blick auf die Stadien schießen unserem Autor immer wieder die gleichen Gedanken durch den Kopf.
Guten Morgen aus Doha,
Nur noch ein oder zwei Kilometer bis zum Ziel. Ich kann das Al-Bayt-Stadion schon sehen, den Ort des Eröffnungsspiels. Hier würden Katar und Ecuador die WM eröffnen. Mein Sitznachbar im Bus kommt aus Algerien. Er arbeitet seit einem Jahr als Klempner in Katar. Er fotografiert das Stadion mehrfach, freut sich riesig auf das Spiel, das er live sehen darf.
Ich dagegen habe ein mulmiges Gefühl, wenn ich das Stadion sehe. Es ist beeindruckend, groß, sieht modern aus. Doch mir stellt sich nur eine Frage: Wie viele Gastarbeiter starben hier? Kurz zuvor hatte ich einen Artikel der "Sportschau" gelesen, in dem Gastarbeiter von den Baustellen des Al-Bayt-Stadions berichteten. Sie erzählten von Kollegen, die ungesichert aus der Höhe stürzten, von 16-Stunden-Schichten und Gewalt im Büro der Vorgesetzten.
All das kann ich nicht vergessen, wenn ich auf dieses Bauwerk schaue. Und ich will es auch nicht.
In den Folgetagen werde ich dieses Gefühl nicht verlieren. Egal, ob ich zusammen mit 88.000 Fans im Lusail-Stadion die Sensation Saudi-Arabiens gegen Argentinien sehe oder spüre, wie Zehntausende Mexikaner gegen Polen das Stadion 974 zum Wackeln bringen. Immer wieder schießt mir die Frage in den Kopf: Wie viele Menschen starben für dieses Stadion?
Ich erinnere mich auch zurück an die WM in Russland. Es war meine erste. Für t-online war ich in Moskau, Nischni Nowgorod und St. Petersburg bei diversen Länderspielen unterwegs. Dort konnte ich die WM-Stimmung in den Stadien mehr aufsaugen und auf mich wirken lassen. Doch auch dort hatte ich ein flaues Gefühl im Magen. Drei Jahre vor dem Start des Turniers wurde der Oppositionelle Boris Nemzow unweit des Kremls erschossen. Zudem wurden wenige Stunden vor dem Eröffnungsspiel in Moskau weitreichende Sozialreformen in Russland verabschiedet. Das Renteneintrittsalter wurde für Frauen um acht, für Männer um fünf Jahre erhöht. Alles im Schatten der WM. Zudem spielte das Thema staatliche Überwachung damals eine große Rolle.
Das flaue Gefühl von damals war schwächer als das, welches ich aktuell in Katar beim Blick auf die Stadien spüre. Das Sportliche ist noch stärker im Hintergrund. Aber ich frage mich trotzdem, wann es wieder mal eine WM gibt, bei der wir uns voll auf den Fußball freuen dürfen.
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In vier Jahren findet das Turnier in den USA, Kanada und Mexiko statt. Ich glaube, dass auch über dieser WM eine dunkle Wolke schweben wird: das Klima. Angesichts der Distanzen zwischen den Stadien werden viele Flugreisen für Mannschaften, Medien und Fans nötig sein. Nicht gerade hilfreich bei der Rettung dieser Erde.
WM-Anekdote
Wenn ich darüber berichte, dass ich bei dieser WM kaum Gedanken über das Sportliche fassen kann, stehe ich zwar nicht allein da, zähle aber auch unter den Journalisten wohl eher zur Minderheit. Als ich das Länderspiel zwischen England und dem Iran besuchte, saßen um mich herum auf der Pressetribüne mehrere persische Kollegen im Trikot. Mein Sitznachbar hatte außer einer Tüte Süßigkeiten keine weiteren Utensilien dabei. Und mit jedem Gegentor wurde der Unmut größer. Die iranischen Journalisten führten hitzige Debatten darüber, wer der Schuldige sei.
Einen Tag später berichtete Miguel Delaney, Redakteur der britischen Tageszeitung "The Independent", dass er in der Mixed Zone nach dem Spiel zwischen Argentinien und Saudi-Arabien sogar einen argentinischen Journalisten habe weinen sehen.
Heutige WM-Spiele
11:00 Uhr, Gruppe D: Tunesien gegen Australien
14:00 Uhr, Gruppe C: Polen gegen Saudi-Arabien
17:00 Uhr: Gruppe D: Frankreich gegen Dänemark
20:00 Uhr: Gruppe C: Argentinien gegen Mexiko
Weiterer Hinweis
Die zweifellos größte Überraschung des ersten WM-Spieltags war der 2:1-Sieg Saudi-Arabiens über Argentinien. Dabei lagen die Außenseiter zur Pause noch mit 0:1 hinten. Nun veröffentlichte der Verband einen Teil der Halbzeitansprache von Nationaltrainer Hervé Renard.
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Mithilfe eines Dolmetschers schreit der Franzose seine Spieler an und fragt sie, warum sie Messi im Mittelfeld in Ruhe lassen. "Wollt ihr ein Foto mit ihm machen?" Die Ansprache zeigte Wirkung, in der zweiten Hälfte überrannten die Saudis die Argentinier, ließen ihnen keinen Zentimeter Platz.
Heute trifft Renard mit seinem Team auf Polen mit Robert Lewandowski. Und der hat nach seinem verschossenen Elfmeter gegen Mexiko mächtig Wut im Bauch. Es könnte also auch hier in der Kabine Saudi-Arabiens ziemlich laut werden.