25 Jahre nach WM-Sieg 1990 Analyse: So hat sich der Fußball verändert
Es war der 8. Juli 1990. Die DFB-Elf hatte gerade Argentinien im WM-Finale von Rom mit 1:0 besiegt und den dritten Stern nach Deutschland geholt. Teamchef Franz Beckenbauer schritt gedankenverloren über den Rasen und sorgte für einen der großartigsten Momente der Fußball-Geschichte. Doch war auch der Fußball, der vorher gezeigt wurde, großartig? Und wie hat er sich seitdem verändert? Taktik-Experte Christian Titz hat sich dieser Frage angenommen und die Entwicklung der vergangenen 25 Jahre genau angesehen.
Herr Titz, wo haben Sie das WM-Finale 1990 geschaut?
Christian Titz: Ich habe aufgeregt bei meinen Eltern auf der Couch gesessen und mitgefiebert. Damals war ich noch ein richtiger Fan, habe laut gejubelt und danach den Titelgewinn mit Freunden und Verwandten gefeiert.
Hatten Sie auch damals schon Stift und Zettel zur Hand und haben sich Notizen zur Taktik gemacht?
Nein, zu dieser Zeit konnte ich Fußballspiele noch - obwohl ich bereits meine erste Juniorenmannschaft trainiert habe - als Fan aus der Zuschauerperspektive genießen und einfach anschauen. Ich habe nur gehofft, dass irgendwann ein Tor fällt – egal wie. Das kann ich mittlerweile so als Trainer leider nicht mehr. Aber ich habe natürlich auch damals schon etwas auf die Spielweise und das System geachtet, interessiert hat mich das schon immer.
Wie war denn das System der deutschen Elf?
Heutzutage würde man das wohl am ehesten als 1-3-5-2 oder als Mix aus 1-1-3-4-2 und einem 1-1-2-2-3-2 bezeichnen. Die DFB-Elf hat unter Franz Beckenbauer schon damals variabel agiert. Es gab einen Libero, je nach Gegner ein bis zwei Manndecker, Außenspieler, zwei echte Stürmer und kreative Leute im zentralen Mittelfeld. Wenn der Gegner mit einer Spitze agierte, war hinter dem Vorstopper ein Libero positioniert und daneben eine Art linker und rechter Außenverteidiger. Die Anforderungen an die Positionen waren aber noch ganz andere. Guido Buchwald hat beispielsweise im Finale 90 Minuten nur gegen Diego Maradona gespielt, Andreas Brehme spielte auf dem linken Flügel eher strategisch einen Mix aus Außenverteidiger und äußerer Mittelfeldspieler, heute sind auf dieser Position pfeilschnelle und dribbelstarke Leute gefragt. Es gibt also deutlich erkennbare Unterschiede im Vergleich zur jetzigen Zeit.
Was sind denn die größten Unterschiede zwischen dem Fußball von 1990 und 2015?
Der größte ist mit Sicherheit die Physis. Die Profis von heute sind allesamt hochgezüchtete Rennpferde. Die Athletik hat sich in den vergangenen Jahren enorm verändert, dadurch ist das Spiel unglaublich schnell geworden. Es gibt so gut wie keine Verschnaufpausen mehr, das war früher anders. Da konnte man noch in Ruhe das Spiel aufbauen, schnelle Tempogegenstöße waren eher die Ausnahme.
Und wie sieht das mit der Taktik aus? Gab es so etwas überhaupt?
Nicht in dem Umfang wie heute. Ich selbst kann mich erinnern, dass ich das erste Mal Mitte/Ende der Neunziger Jahre mit dem 1-4-4-2-System und Raum- statt Manndeckung in Verbindung gekommen bin. Vorher haben viele Mannschaften hinten gerne dichtgemacht, lange Bälle gespielt und dann mal geschaut, was passiert. Heute gibt es Dreierketten, Viererketten, Fünferketten, die Teams beherrschen gleich mehrere Systeme, sind sehr variabel und können sogar während eines Spiels flexibel hin und her wechseln. Das war früher in der Variabilität eher nicht möglich – das lag aber auch ein bisschen an den Regeln.
Wieso das? Das müssen Sie erklären.
Zum einen gab es noch kein passives Abseits, was es für die Abwehrreihen deutlich einfacher gemacht hat. Zum anderen durfte der Torwart den Ball nach Rückpässen noch mit der Hand aufnehmen. Das hat Pressing – eines der wichtigsten Werkzeuge des heutigen Fußballs – fast unmöglich gemacht. Zur Not konnte der Keeper den Ball einfach aus dem Spiel nehmen und Ruhe reinbringen. So etwas verändert ein Spiel natürlich enorm.
Angenommen: Die Regeln wären so wie heute - wie würde ein Spiel zwischen den Weltmeistern von 1990 und 2014 ausgehen?
Das ist schwierig zu beurteilen. Die Spieler von damals waren abgebrüht bis in die Haarspitzen, aber einfach nicht so austrainiert wie die Spieler von Jogi Löw. Falls sie mit dem Fitnessstand von damals spielen würden, würden sie deshalb über kurz oder lang große Probleme gegen Bastian Schweinsteiger und Co. bekommen.
Ist der Fußball von heute also besser als der von damals?
Er ist auf jeden Fall attraktiver. Der Tempounterschied ist enorm, die Spieler sind technisch und taktisch viel besser ausgebildet. Das Spiel ist inzwischen schon sehr weit ausgereizt. Der Mix aus Psyche und der optimalen körperlichen Verfassung ist nah am Maximum. Der Fußball ist deswegen vielleicht nicht besser, aber es ist eine klare - und positive - Weiterentwicklung zu erkennen.
Wird diese Weiterentwicklung noch weitergehen oder sehen wir gerade schon den perfekten Fußball?
Nach der WM 2010 dachte ich, dass es taktisch nicht mehr viele Veränderungen geben wird. Die WM 2014 hat mich dann aber eines Besseren belehrt. Es gibt sicherlich Nuancen, die noch verbessert werden könnten – und es gibt jede Menge kreative Köpfe, die den Fußball immer weiter verändern wollen. In den Bereichen Ernährung, wissenschaftliche Trainingssteuerung, Individualisierung, Handlungsschnelligkeit und der ärztlichen Betreuung gibt es nach wie vor Entwicklungspotenziale. Ich könnte mir vorstellen, dass es in Zukunft noch mehr Spezialisten im Trainerstab geben wird. Es wird sicherlich nicht in der Geschwindigkeit weitergehen. Aber vielleicht wundern wir uns tatsächlich in 25 Jahren, was bei der WM 2014 für ein seltsamer Fußball gespielt wurde.
Das Interview führte Mark Weidenfeller.
Mehr Informationen zu Christian Titz, der seit dem 01. Juli 2015 die U17-Auswahl des Hamburger SV trainiert und zudem das mannschaftsübergreifende Individualtraining beim Bundesliga-Dino leitet, finden Sie bei Facebook (www.coaching-zone-portal.de) und seinem YouTube-Channel (https://www.youtube.com/channel/UC33pc1FJn5-Rt4oU2ERUEUg).