Entwicklung unterschätzt Diesen Fehler muss sich Löw vorwerfen lassen
Aus Marseille berichtet Thomas Tamberg
Mats Hummels beschrieb die Stimmung unmittelbar nach der 0:2-Pleite gegen Frankreich im Halbfinale der EM 2016 kurz und knapp mit "scheiße". Thomas Müller sagte in der Nacht der Niederlage, es sei alles umsonst gewesen. Mit ein bisschen Abstand dürfte das EM-Fazit aus deutscher Sicht nicht ganz so drastisch ausfallen. Und doch müssen sich die Verantwortlichen der DFB-Elf einen Fehler bei der Nominierung vorwerfen lassen.
Was bleibt von dieser EM? Die deutsche Nationalmannschaft ist zum sechsten Mal hintereinander bei einem Turnier in das Halbfinale eingezogen. Eine stolze Serie. Sie hat sich bei dieser EM in Frankreich von Spiel zu Spiel gesteigert. Ironie des Schicksals: Ausgerechnet mit dem besten Spiel haben sich die Männer von Joachim Löw aus dem Wettbewerb verabschiedet.
Gomez ist der große Gewinner
Das Duell gegen Frankreich hat noch einmal deutlich gemacht, woran das deutsche Spiel derzeit krankt. Der Angriff ist nur noch ein laues Lüftchen, außerdem fehlen Alternativen zu Mario Gomez. Der Stürmer, zwischendrin schon auf dem Abstellgleis gelandet, ist der große Gewinner des Turniers. Sogar die Fans haben ihn nach bei seiner verletzungsbedingten Auswechslung gegen Italien mit Sprechchören gefeiert. Das gab es schon Ewigkeiten nicht mehr.
Sie haben ein gutes Gespür. Löw hat mittlerweile das Spiel der DFB-Elf stark verfeinert. Während andere Nationen ein System spielen können, ist das deutsche Team variabel wie noch nie. Ob Dreier- oder Viererkette, mit zwei Sechsern, Raute oder auf einer Höhe: Die Nationalmannschaft ist so eingespielt, dass sie nahezu jeden Gegner nach Belieben dominieren kann.
Respekt vor der DFB-Elf ist groß
Selbst große Fußballnationen wie Italien und Gastgeber Frankreich rührten gegen die deutsche Nationalmannschaft mächtig Beton an. Das gab es noch nie. "Hätten wir uns das vor eigenem Publikum erlaubt, wir wären ausgepfiffen worden", stellte Manuel Neuer nach dem Spiel gegen die EM-Gastgeber im Halbfinale fest.
Womit wir wieder bei Gomez wären. Der Sturmtank war unter Löw schon out. Alles sollte spielerisch gelöst werden. Die falsche Neun erhielt Einzug in den Sprachgebrauch des deutschen Fußballs. Doch plötzlich sind Typen wie Gomez wieder gefragt. Sie eröffnen gegen die extrem defensiv eingestellten Gegner zusätzliche Möglichkeiten.
Keine Alternativen im Sturm
So schaffen sie mit ihrer Robustheit Räume für die Kollegen, wenn sie den Ball prallen lassen. Außerdem sind Flanken wieder ein probates Mittel, wenn jemand in der Mitte steht, der mit hohen Hereingaben auch etwas anfangen kann. "Gegen tief stehende Mannschaften brauchst du Mittelstürmer, die Präsenz im Sechszehner haben. Mario tut das sehr gut", sagte Hummels.
Hier müssen sich Löw und sein Trainerstab also den Vorwurf gefallen lassen, dass sie mit Gomez nur einen klassischen Mittelstürmer nominiert hatten. Als sich dieser verletzt hatte, fehlte plötzlich die Alternative. Gegen Frankreich musste Thomas Müller den Gomez machen, was nicht gelang. Dafür fehlten Müllers Qualitäten wiederum woanders.
Löw und seine Mitstreiter hatten im Vorfeld offensichtlich nicht daran geglaubt, dass Sturmkanten wieder wichtig werden könnten. Schließlich setzte man zu Turnierbeginn noch mit Mario Götze auf einen spielenden Stürmer. Immerhin hielt man nicht dogmatisch an den Vorstellungen fest, sondern änderte im Laufe des Turniers die Spielweise.
Nächste Generation steht in den Startlöchern
Ansonsten ist alles Jammern auf hohem Niveau. Die Aufarbeitung werde nicht allzu lange dauern, kündigte Löw bereits an. Muss es auch nicht. Denn unter seiner Führung hat sich die Mannschaft Jahr für Jahr weiterentwickelt. Und mit dem Sieg gegen Italien nach einem dramatischen Elfmeterschießen hat die Mannschaft ihren Fans eine magische Nacht beschert und nebenbei das jahrzehntelang währende Trauma besiegt. Ein Sieg für die Geschichtsbücher.
Aber auch aus einem anderen Grund war diese EM nicht "ganz umsonst", wie sich Müller in seiner ersten Enttäuschung äußerte. Mit Jonathan Tah, Julian Weigl, Emre Can, Joshua Kimmich, Leroy Sané und Co. konnte bereits die nächste Generation internationale Erfahrung sammeln.