Dreierkette, Raute, echte Stürmer Das sind die neuen Taktik-Trends der Bundesliga
Das Interview führte Mark Weidenfeller
Die Zeit des Wartens hat ein Ende: An diesem Wochenende startet die Bundesliga in ihre 52. Spielzeit. Die Jagd auf Titelverteidiger Bayern München ist eröffnet, mit dem SC Paderborn kämpft ein Neuling wohl von Beginn an gegen den Abstieg, und der Hamburger SV ist tatsächlich auch wieder mit dabei. Während sich also einige Dinge offenbar nie ändern werden, geht der Trend in Sachen Taktik - so scheint es - ebenfalls zurück zu Altbewährtem.
Dreierkette, Raute im Mittelfeld, zwei echte Stürmer - was vor wenigen Jahren als unmodern und aus der Mode gekommen galt, ist derzeit von der Isar bis ins Ruhrgebiet offenbar der neueste Schrei. Fußballlehrer Christian Titz hat sich deshalb die neuen alten Spielsysteme genau angesehen und analysiert. Bei t-online.de erklärt der Taktik-Experte, wieso diese Renaissance der Dreierkette kein Rückfall in alte Zeiten ist, warum einige Teams plötzlich andere Systeme spielen und welche Auswirkungen die WM auf die Bundesliga hat.
Herr Titz, in der Bundesliga scheint es gerade einen Retro-Trend in Sachen Taktik zu geben. Der BVB spielt mit zwei Stürmern, der FC Bayern mit Dreierkette. Welches Team wird als erstes den Libero wieder einführen?
Einen klassischen Libero mit zwei Manndeckern wird es – da bin ich mir ziemlich sicher – in dieser Form nicht mehr geben. Dafür hat sich der Fußball zu sehr verändert. Abwehrspieler, die ihren Gegenspielern überall hin folgen, können ganz leicht aus dem Spiel genommen werden. Ein letzter Mann, der weit abgesetzt hinten drin steht, ist eine Einladung für Pässe in die Tiefe, da würde sich jeder schnelle Außenspieler freuen. Das wird nicht passieren. Ich bin aber sowieso der Meinung, dass es diesen Retro-Trend überhaupt nicht gibt.
Aber Dinge wie die Dreierkette oder zwei echte Stürmer gab es doch gefühlt zum letzten Mal in den 90ern.
Die Dreierkette von heute, wie sie beispielsweise der FC Bayern oder die holländische Nationalmannschaft praktiziert, ist mit der Dreierkette von früher überhaupt nicht mehr zu vergleichen. Das ist eine Weiterentwicklung, die sich an die Gegebenheiten im modernen Fußball angepasst hat und nun eine weitere Alternative für gute und flexible Mannschaften darstellt.
Wie kommt es zu so einer Weiterentwicklung?
Es gibt heutzutage im Fußball einfach viel mehr erstklassig ausgebildete Trainer, die ihre Spieler möglichst perfekt auf jeden Gegner einstellen wollen. Es reicht nicht mehr, stur ein System zu beherrschen. Teams, die ganz oben stehen, können variabel und spontan auf besondere Gegebenheiten reagieren und blitzschnell die Anordnung ändern. Ein Mittel ist dann eben die Dreierkette.
Was sind denn die entscheidenden Unterschiede zwischen der heutigen Dreierkette und der Viererkette?
Auch hier muss man genau hinsehen, denn auch bei der Dreierkette selbst gibt es noch einmal zwei Grundvarianten. Der FC Bayern nutzt dieses System, um einen weiteren Mann im Mittelfeld zu haben und ständig eine Überzahl zu erschaffen. Dort spielen dann zwei echte Außenbahnspieler, die sich nur bei Ballbesitz des Gegners fallen lassen, sonst aber für die Offensive zuständig sind. Das wiederum bewirkt, dass Spieler wie Arjen Robben, Mario Götze, Franck Ribéry oder Thomas Müller, die im herkömmlichen 4-2-3-1 oder 4-1-4-1-System als Flügelstürmer agieren, zusätzlich in die Mitte einrücken können, um dort mit ihrer individuellen Klasse und Technik für Gefahr zu sorgen.
Was ist die zweite Variante?
Im Gegensatz dazu steht die Dreierkette, die die holländische Elf während der WM gezeigt hat. Louis van Gaal ging es zunächst einmal darum, das Zentrum zu verdichten und die Defensive zu stärken. Die beiden Außenbahnspieler hatten primär Abwehraufgaben zu erledigen, aus der Dreierkette wurde demnach schnell eine Fünferkette. Ziel war es, den Gegner auf die Flügel zu drängen und zu Flanken zu zwingen, die dann von drei Innenverteidigern geklärt wurden. Im Gegenzug konnte die Elftal immer wieder ein gezieltes Pressing aufziehen und mit fünf Spielern im Mittelfeld in Richtung des ballführenden Spielers schieben und früh attackieren. Das geht mit einer Viererkette in dieser Form nicht.
Eine weitere taktische Neuigkeit, die bei Borussia Dortmund zu beobachten ist, ist die Rückkehr zu zwei Stürmern plus Mittelfeldraute. Ist das eine Reaktion, um die Last des Abgangs von Robert Lewandowski auf zwei Schultern zu verteilen oder steckt da auch eine besondere Idee dahinter?
Auch das ist nicht unbedingt etwas Neues, das gab es beim BVB schon in der Anfangsphase von Jürgen Klopp. Ein Trainer muss seine Taktik auch immer nach seinem Spielermaterial ausrichten. Nach dem Abgang von Robert Lewandowski, der die perfekte Besetzung für das System mit einem Stürmer war, setzen die Dortmunder vor allem auf variable Spieler. Ciro Immobile und Pierre-Emerick Aubameyang können über die Außen kommen, fühlen sich aber auch in der Zentrale wohl, wenn sie einen Mann wie Adrian Ramos an ihrer Seite haben. In einem 4-4-2 mit Raute kann Marco Reus auf der Zehn spielen, Henrikh Mkhitaryan rückt dann in die Halbposition. Beide können in einem 4-2-3-1 aber auch über die Flügel kommen.
Es geht also auch hier um Flexibilität.
Das ist mit das Wichtigste heutzutage. Der BVB kann sich auf die Gegner einstellen und auf verschiedene Spielweisen reagieren. Aus einer Raute kannst du innerhalb weniger Sekunden auf ein 4-3-3 umstellen und mit Reus in vorderster Spitze attackieren. Gleichzeitig können sich die Dortmunder aber auch erst einmal fallen lassen, die Stürmer auf die Außen ziehen, so das Aufbauspiel des gegnerischen Teams in die Zentrale lenken und dort zuschlagen. Soll es insgesamt kompakter sein und in der Offensive über die Außen gehen, wird auf das System mit zwei Sechsern umgestellt.
Es gibt also gar nicht mehr das eine System, mit dem eine Mannschaft ins Spiel geht und das dann so durchzieht?
Das wird zumindest immer seltener. Der Fußball ist komplexer geworden, die Trainer müssen sich etwas einfallen lassen. Dinge wie Dreierkette oder Doppelspitze sind Reaktionen auf diese ständige Entwicklung. Es geht viel um spielsituatives taktisches Verhalten. So etwas muss natürlich getestet werden, dafür wurde die Vorbereitung und der DFB-Pokal genutzt. Ein Rückfall in alte Zeiten ist das aber genauso wenig wie die Neuerfindung des Fußballs. Variabilität ist der Schlüssel zum Erfolg, das haben nicht zuletzt die WM und die DFB-Elf gezeigt.
Die DFB-Elf hat in Brasilien mit vier Innenverteidigern in der Viererkette gespielt. Wann sehen wir das in der Bundesliga?
Das wiederum war eine besondere Maßnahme, die – so glaube ich – in dieser Form wohl einmalig bleiben wird.
Mehr Informationen zu Christian Titz, der schon bei großen Vereinen wie Bayer Leverkusen, Schalke 04 oder Ajax Amsterdam hospitierte, bei Klubs wie Alemannia Aachen oder dem SV Waldhof Mannheim tätig war und den FC Homburg als Chefcoach 2012 in die Regionalliga Südwest führte, finden Sie bei Facebook und seinem YouTube-Channel.