Darmstadts Aufstiegs-Märchen "Wenn Pep kommt, wischen wir noch durch"
Aus Darmstadt berichtet Patrick Brandenburg
Am Ende war das Chaos perfekt, aber es war das perfekte Chaos. In Sekundenschnelle hatten zigtausende Fans von Darmstadt 98 den Rasen gestürmt und feierten enthemmt die Rückkehr in die Bundesliga. Unter der Haupttribüne übergossen sich die Spieler in "Uffsteiger"-Trikots mit Bier. Trainer Dirk Schuster? Schien abhanden gekommen zu sein im ganzen Trubel, während Präsident Rüdiger Fritsch sich einen Spaß daraus machte, den Journalisten weiter eine Nase zu drehen.
"Wir haben immer gesagt: Wir reden nicht vom Aufstieg", zog er eine Reporterin auf, die dem Lilien-Chef nun endlich das verbotene Wort entlocken wollte. Und bei der Frage nach der Bundesliga-Tauglichkeit des abgehalfterten Böllfenfalltor-Stadions legte Fritsch gleich noch nach: "Wenn Pep kommt, wischen wir vorher noch mal durch."
Durchmarsch bis nach ganz oben
Nicht nur Pep Guardiola und der FC Bayern, die ganze Bundesliga kann sich freuen auf einen tollen Aufsteiger, dem der Schalk im Nacken sitzt. Hier hat die Anarchie gewonnen und das Chaos ist Programm – aber auf eine sympathische Art. Zum dritten Mal nach 1978 und 1981 spielen die Lilien nun in der höchsten deutschen Spielklasse, und dass sie nach 33 Jahren Abstinenz wieder zurück sind, ist nicht weniger als ein Fußball-Märchen.
Gerade mal sieben Jahre ist es her, da stand der Traditionsverein am Rande der Insolvenz. Erst vor zwei Jahren hielt der abgestiegene Drittligist nur die Klasse, weil der Lokalrivale Offenbacher Kickers keine Lizenz bekam. Seitdem aber geht es bei den Lilien bergauf. Mit Trainer Schuster nutzten die Lilien ihre Chancen und stiegen am Ende der Saison 2013/14 in die Zweite Liga auf. Durch das legendäre Relegations-Drama gegen Arminia Bielefeld. Nun der Durchmarsch in die Bundesliga, das haben bislang nur sechs andere Teams geschafft.
"Lichter Moment von Tobias Kempe"
"Die Mannschaft ist die ganze Saison ans Limit gegangen", sagte Trainer Schuster später, als er doch wieder aufgetaucht war – aus den wilden Partyklängen der Gästekabine neben dem winzigen Presseraum, in der Gegner St. Pauli zeitgleich den Klassenerhalt feierte. Mit einem Team der Aussortierten und Unterschätzten hat der frühere Bundesliga-Profi den Weg nach oben geschafft. Überragende Fußballer hat Darmstadt nicht, dafür viele Athleten, die an sich und ihre Chance geglaubt haben.
Auch beim 1:0-Sieg über die Kiezkicker, der letztlich den Aufstieg sicherte, zelebrierte Darmstadt keinen Kombinationsfußball. Nach gefühlt 50 unnützen hohen Flanken in den Strafraum musste, wie Schuster frotzelte, "ein lichter Moment von Tobias Kempe" herhalten, um die Feier in Gang zu setzen. Mit simplen Mitteln, aber einem klaren Plan, ist der Zweitliga-Aufsteiger durch die Saison gebrettert und hat dabei Punkt um Punkt geholt, bis auch die eigene Überraschung über die Möglichkeiten irgendwann nachließ.
"Brauchen immer Leute, am besten kostenlos"
Die ist inzwischen einem gesunden Selbstbewusstsein gewichen. "Der Mann, der immer über die dritte Liga redet", zischte Aufstiegsheld Marco "Toni" Sailer lange nach Schlusspfiff mit einem Augenzwinkern in Richtung seines Präsidenten. Oberkörper frei, die Buchse auf halb acht hängend, und im Arm ein gigantisches Bierglas, das gleich auf die Fans geschüttet werden sollte. Fritsch revanchierte sich, die Mannschaft habe ja "doch eine ganz ordentliche Saison gespielt". Selbst mit biernassem Hemd und arg ramponierter Brille ausgestattet, wirkte das schon ziemlich cool. Die Lilien machen sich über ihr Understatement selbst lustig.
Was bleibt ihnen auch anderes übrig. Mit einem Personaletat von nur sechs Millionen Euro sind sie selbst in der Zweiten Liga kaum konkurrenzfähig. Und in der Bundesliga? Bayern-Coach Guardiola verdient diese Summe in einem halben Jahr. Auch die Strukturen der Lilien hinken meilenweit hinter der sportlichen Entwicklung hinterher. Bis heute wird die Arbeit im Verein überwiegend von bis zu 120 Ehrenamtlichen geleistet. Nicht einmal ein Dutzend Festangestellte gibt es, da muss im Sommer dringend aufgestockt werden. "Wir brauchen immer gute Leute, die mitarbeiten, am besten kostenlos", sagte Fritsch erst kürzlich. Ob das auch ein Scherz war?
Was sagt die DFL zum Anarcho-Aufsteiger?
Nachholbedarf besteht vor allem beim Stadion, dieser Kultstätte des Fußballs: roh, rau und echt - eigentlich nur etwas für Nostalgiker. Streng genommen, war es nicht einmal richtig zweitligatauglich. Früher fasste das altehrwürdige "Bölle", das inzwischen offiziell Merck-Stadion am Böllenfalltor genannt wird, gut 30.000 Zuschauer. Die Kapazität des maroden Bauwerks ist nun auf 16.500 beschränkt, auf der Gegentribüne wurden Sitzplätze eingestreut und der Block neben den Gästefans bleibt zur Sicherheit frei. Zwischen den Stufen wuchert bisweilen Unkraut, die Mixed Zone befindet sich gänzlich unprätentiös unter dem Stahlgerüst der Haupttribüne.
Der Presseraum ähnelt dem Klubraum eines Kreisligisten, die VIP-Räume sind in einem doppelstöckigen Container hinter der Haupttribüne untergebracht. Im Prinzip hat sich seit dem ersten Aufstieg 1978 nicht viel geändert, außer der Rasenheizung, die von der DFL beim Zweitliga-Aufstieg zur Auflage gemacht wurde, und einige Schönheitsreparaturen. Es wird spannend sein, ob die Liga den Anarcho-Aufsteiger Darmstadt in Sachen Stadion zur Räson ruft. In jedem Fall erhöht sich der Handlungsdruck, eine zukunftsfähige Lösung zu finden. Um ein wettbewerbsfähiges Stadion ringt der Klub seit langer Zeit vergeblich.
"Die Mannschaft wird sicher ein bisschen feiern"
Aber bis dahin bleiben ja noch ein paar Wochen. Erst einmal ist Party angesagt in Darmstadt. Dank der glücklichen Pfingstfügung hat die Aufstiegsstadt für den Feiertag einen Feiertag erwischt. Kurzerhand ist auch das traditionelle Schlossgrabenfest um einen Tag verlängert worden, so dass es einen Autokorso durch die City gibt, mit anschließendem Empfang auf einer der Bühnen am Karolinenplatz.
Danach geht es für alle Aufstiegshelden im Partybomber nach Mallorca. "Die Mannschaft wird sicher ein bisschen feiern", kündigte Trainer Schuster bereits an - in gewohnter Untertreibung.