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Silvester-Chaos in Berlin: Anwohner wollen aus Neukölln wegziehen


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"Die terrorisieren die Nachbarschaft"
Silvester-Eskalation: Anwohner wollen wegziehen


Aktualisiert am 06.01.2023Lesedauer: 4 Min.
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Angriff auf Rettungswagen: Aufnahmen zeigen den Vorfall. (Quelle: t-online)

Nach der eskalierten Silvesternacht wollen Anwohner aus Neukölln wegziehen. Sie berichten von dauernder Randale durch Jugendliche – und haben Angst.

Michèl will weg. Weg aus seiner Wohnung in Neukölln, obwohl er die eigentlich liebe, wie er sagt. Denn er fühle sich dort nicht mehr wohl – und nicht mehr sicher. Die Silvesternacht habe für ihn etwas verändert.

Silvester habe er nicht in Neukölln gefeiert, erzählt er. "Man weiß ja, wie es hier abgeht." Aber dass es so schlimm werden würde, hätte er nicht gedacht. Schon bevor er nach Hause geht, bekommt er in der Nacht Videos von Bekannten zugeschickt. Darin ist zu sehen, wie eine Gruppe Jugendlicher immer wieder Raketen auf das Haus schießt, in dem Michèl wohnt. "Unser Haus wurde den ganzen Abend gezielt attackiert", sagt Michèl. Auf Aufnahmen aus der Nacht, die t-online vorliegen, ist zu sehen, wie ein junger Mann Feuerwerkskörper aus einer Schreckschusswaffe auf das Haus feuert.

Als er dann gegen halb fünf Uhr morgens nach Hause gekommen und das Ausmaß der Zerstörung gesehen habe, sei er wütend geworden, sagt Michèl. Eine Gruppe Jugendlicher habe er noch im Hinterhof erwischt, immer noch am Böllern. Er habe sie angesprochen und darum gebeten, jetzt bitte einfach aufzuhören. Nach einiger Zeit hätten sie sich dann wirklich verzogen.

Video | Kugelbombe explodiert in Silvesternacht an Polizeiauto
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Quelle: t-online

Knapp an der Katastrophe vorbei

Seine Wohnung habe noch relativ wenig abbekommen, sagt Michèl. Die äußere Scheibe seines doppelt verglasten Badezimmerfensters sei zerstört worden. "Aber mehrere andere Fenster müssen auch ausgetauscht werden, weil sie von der Hitze der Feuerwerkskörper angeschmolzen sind", sagt er.

Größer ist der Schaden an der Wohnung seines Nachbarn Stefan. Ein Geschoss hat ein Fenster durchschlagen, danach sind offenbar mehrere Raketen in die Wohnung geflogen und dort explodiert. Als Stefan von einer Silvesterparty aus einem anderen Bezirk zurückkam, fand er seine halb zerstörte Küche vor, erzählt er t-online. "Überall lagen angesengte Bilder und Zeitungen. Einiges hat offenbar kurz Feuer gefangen, ist dann aber zum Glück wieder ausgegangen", sagt Stefan. Ein Geschoss explodierte offenbar auf dem Ceranfeld, das völlig zerstört wurde.

"Ein bisschen anderer Winkel, und die Bude wäre in Flammen aufgegangen", sagt Michèl. "Das war ganz knapp daran vorbei, dass Menschen ernsthaft verletzt oder sogar getötet hätten werden können", sagt Stefan.

Aber mit der Silvesternacht war es noch nicht vorbei. An Neujahr habe wieder eine Gruppe Jugendlicher auf der Straße gestanden und Raketen aufs Haus gefeuert, sagt Michèl. Er sei runtergegangen und habe die Jungs ansprechen wollen. Da die zehn bis 15 Jungs aber einschüchternd und aggressiv gewirkt hätten, sei er im Hausgang stehengeblieben und habe gefilmt. "Ey, der Hurensohn filmt uns", habe einer der Jungs gerufen.

"Die Jungsgruppen terrorisieren die Nachbarschaft, das ganze Jahr über"

Michèl habe bemerkt, wie drei sich unauffällig seitlich aus der Gruppe entfernt hätten. Einer von diesen Jugendlichen habe dann plötzlich eine Schreckschusswaffe gezückt und einen Feuerwerkskörper abgefeuert. Michèl habe gerade noch rechtzeitig die Haustüre schießen können. "Der hat ganz skrupellos auf mich geschossen", sagt er. Er habe die Polizei gerufen, die den Schützen tatsächlich im Laufe des Abends gefunden habe. "Jetzt hat er zumindest eine Anzeige wegen gefährlicher Körperverletzung am Hals." Er glaube aber nicht, dass juristisch wirklich etwas passieren werde. Der Angreifer sei vermutlich minderjährig und es passiere ja ständig so etwas.

Michèl sagt, dass er viele der Jungs kenne, die an Silvester hier über die Stränge geschlagen haben. "Die meisten von ihnen wohnen im Nachbarhaus." Und die Silvester-Eskalation sei kein Einzelfall. "Die Jungsgruppen terrorisieren die Nachbarschaft, das ganze Jahr über", sagt er. Die Bushaltestelle vor Ort werde regelmäßig entglast, Steine würden auf vorbeifahrende Busse geschmissen. "Oder sie gehen in irgendwelche Häuser, holen Mülltonnen raus und stellen sie auf die viel befahrene Straße." Vor ein paar Monaten hätten sie auch eine angezündet. "Alle hier leiden darunter und fühlen sich eingeschüchtert".

Nachbar Stefan bestätigt das. Und er findet, dass die Polizei mehr Präsenz zeigen müsste in Neukölln. "Ich wünsche mir keinen Law-and-Order-Staat, wir brauchen hier keine bayrischen Verhältnisse. Aber angesichts dessen, was jeden Tag passiert, ist es hier schon ziemlich lasch."

Keine Antwort von der Bürgermeisterin

Beide Nachbarn ziehen jetzt Konsequenzen aus den Erlebnissen. Michèl sucht aktiv nach einer Wohnung, will nach Prenzlauer Berg oder Schöneberg ziehen. Denn: "Ich muss jetzt Angst haben, vor meine Haustür zu gehen." Und auch Stefan will weg. "Ich habe die Hoffnung verloren, dass sich etwas an der Situation verändert", sagt er.

Michèl hat noch eine Maßnahme ergriffen. Nach zwei schlaflosen Nächten hat er Berlins Regierender Bürgermeisterin Franziska Giffey und Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel eine lange E-Mail geschrieben, die t-online vorliegt. Darin schildert er beiden die Vorfälle an Silvester und im restlichen Jahr. Er wolle "meine Sorge und auch Angst mit Ihnen teilen", schreibt er. Und er fragt Giffey und Hikel: "Was können Sie für uns tun und wo können Sie uns unterstützen, um die Situation zeitnah zu verbessern?" Abschließend bittet er sie: "Falls Sie von einer freien Wohnung in Prenzlauer Berg oder Schöneberg wissen, teilen Sie die Info gerne mit mir."

Eine Antwort bekommen hat Michèl bisher nicht. Auch auf eine t-online-Anfrage zu den Vorfällen haben Giffey und Hikel bisher nicht reagiert. Michèl hofft jetzt darauf, möglichst schnell eine neue Wohnung zu finden.

Verwendete Quellen
  • Interviews mit den beiden Anwohnern
  • Videomaterial von vor Ort
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