1400 Probanden untersucht Gehirne sind selten rein männlich oder weiblich
Männliche und weibliche Gehirne: "Das ist Nonsens", sagt die israelische Wissenschaftlerin Daphna Joel. Als die Psychologie-Professorin und Neurowissenschaftlerin las, das nur 15 Minuten Stress ausreichen, um eine Gehirnregion von typisch weiblich zu typisch männlich zu switchen, ahnte sie, dass die gängige Auffassung von männlichen und weiblichen Gehirnen nicht stimmen kann.
Obwohl Unterschiede im Gehirn von Männern und Frauen bestehen, besitzen die meisten Menschen ein Mosaik aus weiblichen und männlichen Kennzeichen. Das berichten die Forscher um Daphna Joel von der Universität Tel Aviv. Ihre Untersuchung sei auch interessant im Hinblick auf anhaltende soziale Debatten, etwa zum Nutzen von geschlechtsgetrennter Erziehung.
"Jungen werden aufgrund eines hohen Testosteronschubs jedoch zunächst mit männlichem Gehirn geboren", so Joel. Die Hormone würden die Ausprägung des Gehirns vor der Geburt bedingen. Es gäbe dennoch keine Hinweise, dass die Entwicklung danach nicht dazu führe, dass Männer und Frauen die gleichen Kapazitäten haben. Beide haben stattdessen sowohl eine weibliche wie auch eine männliche Seite, so Joel.
Interessant für ihre Forschung war ein Experiment, das männliche und weibliche Probanden unter Stress setzte: Nach 15 Minuten zeigten sich an den Dendriten des Hippocampus deutliche Bewegungen vom einen Geschlecht zum anderen. Ein männliches Gehirn ließ deutliche Charakteristika eines weiblichen Gehirns erkennen und umgekehrt. Verschiedene Studien hätten ihre Erkenntnisse gestützt, so Joel.
In diesem englischsprachigen Video erklärt Joel die Unterschiede der Gehirnregionen und wie es zu einem Wechsel kommen kann.
Bisher nicht gut genug untersucht
Die Frage, ob Männer und Frauen auch abseits der offensichtlich unterschiedlichen Genitalien verschiedene Kategorien bilden, habe Denker seit jeher beschäftigt, schreibt das internationale Team in den "Proceedings" der US-Nationalen Akademie der Wissenschaften ("Pnas"). Festgestellte Unterschiede im Gehirn von Probanden würden oft als Hinweis gewertet, dass es tatsächlich ein männliches und ein weibliches Gehirn gibt. Dies sei aber bisher nicht gut genug untersucht gewesen.
Die Forscher, darunter auch Daniel Margulies vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, werteten Kernspintomographie-Aufnahmen von 1400 Probanden aus. Sie untersuchten Unterschiede in der grauen und der weißen Substanz des Gehirns oder in der Stärke der Verknüpfungen zwischen verschiedenen Hirnbereichen.
Suche nach Überschneidungen
Zunächst suchten die Forscher nach den Bereichen, in denen Unterschiede zwischen Männern und Frauen am stärksten ausgeprägt waren, in denen es also zwischen Männern und Frauen am wenigsten Überschneidungen gab. Dann bewerteten sie einzelne Gehirne danach, inwieweit sie in den betreffenden Bereichen rein weibliche oder rein männliche Merkmale besitzen.
Das Ergebnis: Es gibt Merkmale, die eher bei Männern zu finden sind, und solche, die eher bei Frauen zu finden sind. Einige kommen in beiden Geschlechtern vor. Die meisten Gehirne besitzen Merkmale aus allen Kategorien, Gehirne mit rein männlichen und rein weiblichen Kennzeichen sind deutlich in der Minderheit.
Nur sechs Prozent durchgängig weiblich oder männlich
In Bezug auf die graue Substanz besaßen zum Beispiel nur sechs Prozent der betrachteten Probanden durchgängig weiblich oder durchgängig männliche Kennzeichen.
Diese Erkenntnis decke sich gut mit der von Studien, in denen Verhaltens- oder Persönlichkeitsunterschiede zwischen Männern und Frauen untersucht worden waren. Auch in diesen Studien lasse sich die Mehrheit der Probanden nicht eindeutig aufgrund von bestimmten Merkmalen oder Vorlieben einem Geschlecht zuordnen.
Frühere Studie stellte deutliche Unterschiede fest
Zu einem anderen Ergebnis kamen 2013 US-Forscher um Madhura Ingalhalikar von der University of Pennsylvania in Philadelphia. Sie hatten die Verdrahtung des Gehirns bei Männern und Frauen genauer untersucht und festgestellt, dass es durchaus deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. So besäßen Frauen in weiten Teilen des Gehirns besonders viele Kontakte zwischen den beiden Hirnhälften, während die Männer mehr Verknüpfungen innerhalb der Gehirnhälften hätten, berichteten sie damals, ebenfalls in "Pnas".
Diese anatomischen Unterschiede könnten die oft beschriebenen unterschiedlichen Eigenschaften von Männern und Frauen erklären, folgerten die Wissenschaftler. So könnten Männer dank ihrer Hirnarchitektur ihre Wahrnehmungen besser in koordinierte Handlungen umsetzen; Frauen hingegen besser analytische und intuitive Informationen miteinander verbinden.