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Historiker zu Stalingrad: "Sie konnten nur versuchen, mit Anstand zu sterben"


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Stalingrad – Die Sicht des Historikers
"Sie konnten nur versuchen, mit Anstand zu sterben"

Ein Interview von Marc von Lüpke

Aktualisiert am 06.02.2018Lesedauer: 7 Min.
Stalingrad 1942: Deutscher Stoßtrupp im Häuserkampf.Vergrößern des Bildes
Stalingrad 1942: Deutscher Stoßtrupp im Häuserkampf. (Quelle: ullstein bild)
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Siegessicher war die deutsche 6. Armee nach Stalingrad marschiert, am Ende waren Hunderttausende Landser tot oder gefangen. Historiker Sönke Neitzel erklärt, warum der Tod so vieler Soldaten den Generälen militärisch sinnvoll erschien.

t-online.de: Professor Neitzel, die Schlacht von Stalingrad gilt als ein Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs. Warum?

Sönke Neitzel: Der Untergang der 6. Armee in Stalingrad wurde zu einem weltweit beachteten Symbol, dass die deutsche Wehrmacht besiegt werden konnte. Natürlich hatten die Deutschen bis zu diesem Zeitpunkt an der gesamten Ostfront bereits Hunderttausende Soldaten verloren. Aber der Untergang einer ganzen Armee an einem einzigen Ort hatte erhebliche Auswirkungen auf die deutsche Öffentlichkeit, die Kriegsgegner und die neutralen Staaten. Eine derartige Niederlage der Wehrmacht hatte niemand vorher für möglich gehalten.

SÖNKE NEITZEL, geboren 1968, lehrt Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam. Sein Buch "Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben" ist eines der wichtigsten Werke zur Mentalitätsgeschichte des Zweiten Weltkriegs.

Tatsächlich konnten Hitler und seine Generäle den Krieg aber bereits zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gewinnen.

Richtig. Eigentlich bereits seit dem Herbst 1941, als die deutsche Strategie eines Blitzkriegs gegen die Sowjetunion endgültig gescheitert war. Damit gab es keinen schnellen Weg mehr zum Sieg, sondern stattdessen einen langen und verlustreichen Kampf in den Weiten der Sowjetunion, den die Deutschen nur verlieren konnten. Das wurde in diesem Moment allerdings den wenigsten Offizieren klar. Immerhin standen ihre Truppen vor den Toren Moskaus und beherrschten große Teile des europäischen Kontinents.

Welches strategische Ziel verfolgte die Wehrmachtsführung mit der Eroberung Stalingrads?

1942 sollte der Sowjetunion der Todesstoß versetzt werden, indem man ihr die wirtschaftliche Achillessehne durchtrennte. 90 Prozent ihres Öls bezog die Sowjetunion aus dem Kaukasus. Schiffe transportierten es über die Wolga an Stalingrad vorbei ins Innere des Landes. Im August ging es nun einerseits darum, diesen Versorgungsweg abzuschneiden. Andererseits wollte Hitler den Kaukasus und die Ölfelder selbst erobern.

Nicht zuletzt war die nach dem Sowjetdiktator benannte Stadt auch ein symbolträchtiges Ziel.

Am Anfang wollte man lediglich den Versorgungsverkehr auf der Wolga unterbrechen. Und Stalingrad als wichtiges Rüstungszentrum ausschalten. Die symbolische Bedeutung Stalingrads wuchs dann im Laufe der Zeit aber immer weiter.

Wie hat man sich die Eroberung einer Großstadt wie Stalingrad vorzustellen?

Zunächst wurde die Stadt Ende August 1942 heftig bombardiert. Dann drangen die deutschen Soldaten von Süden in die Stadt ein. Und mussten Meter für Meter gegen erbittertsten Widerstand erobern. Das Besondere an diesem Kampf um Stalingrad war, dass die deutschen Invasoren den sowjetischen Verteidigern zahlentechnisch unterlegen waren: In der Regel ist es genau umgekehrt.

Einen derartigen Kampf in der Stadt waren die Wehrmachtssoldaten bis dahin nicht gewohnt.

Entsprechend haben sie immense Verluste erlitten. Kämpfe in Stadtgebieten waren an der Ostfront insgesamt sehr selten. Städte wie Kiew sind der Wehrmacht schnell in die Hände gefallen, es war hauptsächlich ein Bewegungskrieg, der außerhalb der bebauten Zonen ausgetragen wurde. Es gab nicht einmal richtige Ausbildungsrichtlinien, wie in einer großen Stadt Krieg zu führen sei.

Woher nahmen die Soldaten der Roten Armee diesen enormen Willen zum Widerstand gegen die Deutschen?

Stalin hat seinen berühmten Befehl 227 "Keinen Schritt zurück!" aus dem Sommer 1942 wortwörtlich gemeint. Für viele Rotarmisten war es ein Todesbefehl, weil sie in wahnwitzigen Gegenangriffen immer wieder versucht haben, die Deutschen zu stoppen. Wer zurückwich, wurde nicht selten von den eigenen Leuten erschossen.

Haben die Deutschen die Sowjetunion und ihre Menschen unterschätzt?

Völlig. Die Deutschen hatten geglaubt, die Rote Armee bereits an der Grenze schlagen zu können: einkesseln, vernichten und dann nach Osten weitermarschieren, was zunächst ja auch geklappt hat. Es war im Prinzip eine plausible Strategie. Die Rote Armee hatte in ihren vorherigen Kriegseinsätzen gegen Finnland oder Polen kein besonders gutes Bild abgegeben. Zudem war sie von Stalins sogenannten Säuberungen Ende der Dreißigerjahre sehr geschwächt. Letzten Endes scheiterte die Wehrmacht aber am Kampfeswillen der Roten Armee. Millionen Rotarmisten sind in deutsche Gefangenschaft gegangen. Weitere Millionen haben aber buchstäblich bis zur letzten Patrone Widerstand geleistet. Es gab schließlich auch keine sinnvolle Alternative für die Bewohner der Sowjetunion. Ihnen wurde sehr schnell klar, dass die Deutschen nicht als Befreier vom sogenannten bolschewistischen Joch kamen. Sie kamen als Eroberer und Besatzer. Und zwar der brutalsten Art.

Zu Hitlers Enttäuschung konnten seine Soldaten Stalingrad niemals komplett einnehmen.

Mit viel Improvisation hat es die 6. Armee unter ihrem Oberbefehlshaber Friedrich Paulus geschafft, rund 90 Prozent der Stadt zu erobern. Im Norden gab es kleinere Gebiete, die von der Roten Armee unter gewaltigen Opfern gehalten wurden. Kurz vor der sowjetischen Gegenoffensive im November 1942 stellte Paulus dann die Angriffe ein und bereitete die Truppe auf die Überwinterung vor.

Womit das zweite Drama um Stalingrad eingeleitet wurde.

Am 19. November 1942 startete die Rote Armee eine Gegenoffensive und kesselte die 6. Armee mit einer Zangenoperation ein. Das hatte ihr niemand zugetraut. Es ist genau diese Zeit des Kessels von Stalingrad, die uns auch heute noch emotional auflädt. Es herrschten eisige Temperaturen dort fern der Heimat, schon vor der Einkesselung waren die deutschen Soldaten auf halbe Rationen gesetzt worden. Im Dezember gab es dann die ersten Hungertoten, es ging hin bis zum Kannibalismus. Und das neben heftigsten Kämpfen gegen die Rote Armee. Diese extremen Erfahrungen machen den Kessel von Stalingrad so einzigartig.

Immer wieder wird diskutiert, ob die 6. Armee nicht hätte ausbrechen können. Mit circa 250.000 Mann verfügt sie immer noch über eine beachtliche Stärke.

Das ist schwer zu sagen. Selbst wenn sie unmittelbar nach der Einschließung versucht hätten, auszubrechen, wären sicherlich nicht alle entkommen. Allein schon, weil die Treibstofflage sehr angespannt war. Zudem hatte der Widerstand der 6. Armee im Kessel einen Sinn: Sie band so über Wochen enorme Kräfte der Roten Armee, die dem Gegner an anderen Stellen fehlten. Die Frage ist aber kontrafaktisch: Wir wissen es schlicht nicht, was geschehen wäre.

Als Oberbefehlshaber der Luftwaffe trug Hermann Göring seinen Teil zum Untergang der 6. Armee bei.

Göring versprach, die 6. Armee aus der Luft zu versorgen. Tatsächlich schaffte er es an keinem Tag, selbst die tägliche Mindestmenge von 300 Tonnen einfliegen zu lassen. Im Kessel begannen die Männer, die eigentlich dringend benötigten Pferde zu schlachten. Tatsächlich befand sich aber nur der Ostteil des Kessels in der Stadt Stalingrad selbst. Der Hauptteil der deutschen Einheiten lag in der Steppe vor der Stadt.

Immerhin unternahm die Wehrmacht von außerhalb einen Rettungsversuch.

Genau, unter dem Kommando von Generaloberst Hermann Hoth. Er marschierte allerdings mit viel zu schwachen Kräften an und scheiterte.

Was bekamen die Menschen in Deutschland vom Drama an der Wolga mit?

Stalingrad war in den Wochenschauen bis Oktober 1942 stets ein Thema. Ab November gab es dann eine Nachrichtensperre. Die Presse versuchte stattdessen, die Gefechte zum Heldenkampf zu stilisieren. Zusätzlich wollte man alle Kontakte in Form von Feldpostbriefen zwischen den Soldaten in Stalingrad und ihren Angehörigen unterbinden. Es war sogar so, dass Hitler und Goebbels später die Verbreitung der Nachricht untersagten, dass es Überlebende gab. Offiziell starben alle deutschen Soldaten in Stalingrad den Heldentod für Volk und Führer. Als dann plötzlich irrtümlicherweise Feldpostbriefe von dort zugestellt wurden, wollten zigtausende Menschen wissen, ob ihr Vater, Ehemann, Sohn oder Bruder noch lebte.

Während Goebbels seine Lügen verbreitete, gingen die Kämpfe in Stalingrad weiter. Warum kapitulierte die 6. Armee trotz auswegloser Lage nicht?

Ab Weihnachten 1942 sank die Stimmung mit dem Scheitern der Offensive zur Befreiung der 6. Armee auf den Nullpunkt. Die Soldaten kämpften aber weiter. Man muss das militärische Weltverständnis in diesem ideologisch aufgeladenen Krieg berücksichtigen. Sowjetische Gefangenschaft war aus damaliger Sicht keine attraktive Alternative, die Soldaten konnten nur versuchen, mit Anstand zu sterben. Zudem müssen Sie die deutsche militärische Logik verstehen: Ein Kampf muss fortgesetzt werden, solange man irgendwelche Mittel zur Verteidigung hat. So schlimm es für die eingeschlossenen Soldaten war, der Kessel band aus militärischer Sicht starke feindliche Kräfte. Von einer Sinnlosigkeit der dortigen Kämpfe sprechen wir aus heutiger Sicht. Aus der Logik der Soldaten von damals heraus kann man erklären, warum sie weiter gekämpft haben.

Trotzdem waren die Tage der 6. Armee gezählt.

Am 10. Januar 1943 begann die Rote Armee mit einer Offensive, um den Kessel zu spalten. Und scheiterte. Daraufhin drängte sie die Deutschen sukzessive immer weiter zurück. Am 23. Januar verloren sie schließlich das letzte Flugfeld. Acht Tage später kapitulierte Friedrich Paulus, von Hitler noch zum Generalfeldmarschall ernannt, im südlichen Kessel, am 2. Februar ergaben sich die letzten Truppen im Nordkessel. Die Überlebenden waren alle schon halb verhungert.

Warum hatte Paulus kein Mitleid mit seinen Soldaten und gab früher auf?

Eine Art Fürsorgepflicht des Befehlshabers für seine Männer ist sehr aus heutiger Sicht gedacht. Im Zweiten Weltkrieg stellte niemand solche Überlegungen an, da ging es um Sieg oder Untergang. Und wenn man nicht gewinnen konnte, ging man kämpfend unter. Vor allem war eine Kapitulation vor der Roten Armee undenkbar. Freilich: Wenn Stalingrad in Frankreich gelegen hätte, hätten die Deutschen früher aufgegeben, davon bin ich fest überzeugt.

Jahrelang war die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg von Sieg zu Sieg geeilt. Am 22. Juni 1941 überfielen Hitler und die Wehrmacht die Sowjetunion. Der Feldzug sollte schließlich an einer fernen Stadt an der Wolga enden: Stalingrad. Sowjetische Divisionen kesselten die ganze deutsche 6. Armee ein, mehr als 250.000 Soldaten. Zehntausende starben in den nächsten Wochen und Monaten in heftigen Kämpfen, an Hunger, Kälte und Seuchen. Die deutsche Kapitulation in Stalingrad war vor 75 Jahren ein Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg. t-online.de erinnert heute und in den nächsten Tagen an dieses Ereignis: HANS-ERDMANN SCHÖNBECK, ein Stalingrad-Überlebender, erzählt vom Leben und Sterben in der umkämpften Stadt. MILITÄRHISTORIKER SÖNKE NEITZEL erklärt, warum ausgerechnet Stalingrad zu einer entscheidenden Schlacht an der Ostfront wurde. FELDPOSTBRIEFE schildern das Leid und die Hoffnung der eingeschlossenen Soldaten der 6. Armee. SOWJETISCHE DOKUMENTE lassen deutlich werden, wie entschlossen die Rotarmisten ihre Heimat verteidigten. FRIEDRICH PAULUS, Befehlshaber der 6. Armee, ist eine der tragischsten Figuren der Schlacht um Stalingrad. Ein Porträt zeigt, warum der Offizier seine Männer bis zum bitteren Ende weiterkämpfen ließ. Kolumnist GERHARD SPÖRL erklärt, warum es so wichtig ist, dass wir den Zeitzeugen zuhören.

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Zum Weiterlesen: Antony Beevor: Stalingrad, München 1999 | Jens Ebert (Hrsg.): Feldpostbriefe aus Stalingrad. November 1942 bis Januar 1943, Göttingen 2003 | Jochen Hellbeck: Die Stalingrad-Protokolle. Sowjetische Zeitzeugen berichten aus der Schlacht, Frankfurt/Main 2013 | Torsten Diedrich: Paulus. Das Trauma von Stalingrad, 2. Auflage, Paderborn 2009 | Torsten Diedrich; Jens Ebert (Hrsg.): Nach Stalingrad. Walther von Seydlitz’ Feldpostbriefe und Kriegsgefangenenpost 1939–1955, Göttingen 2018 | Wolfram Wette; Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Stalingrad. Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht, 7. Auflage, Frankfurt/Main 2012

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