200 Jahre "Eiserner Kanzler" Mit Putin hätte Bismarck kein Problem gehabt
Jahrzehntelang bestimmte Otto von Bismarck die Geschicke Deutschlands und Europas. Der Staatsmann, der vor 200 Jahren in Schönhausen bei Stendal im heutigen Sachsen-Anhalt geboren wurde, führte auf dem Weg zur Reichsgründung drei Kriege gegen Dänemark, Österreich und Frankreich. Sein Wirken prägte eine längst vergangene Epoche, aber sein Verständnis von Außenpolitik wird heute noch diskutiert. t-online.de fragte den Historiker Andreas Fahrmeir, wie Bismarck den Ukraine-Konflikt, Wladimir Putins Außenpolitik oder Angela Merkels Rolle in Europa bewerten würde.
t-online.de: Professor Fahrmeir, der "Eiserne Kanzler" gilt vielen Zeitgenossen als Staatsmann, der es durch eine geschickte Bündnispolitik verstanden habe, Deutschland zu einen, im europäischen Mächtekonzert zu verankern und deutsche Interessen durchzusetzen. Dabei habe es der "ehrliche Makler" auch auf unnachahmliche Art und Weise vermocht, die Interessen der anderen Großmächte zu berücksichtigen.
Ist das eine zu positive oder gar verklärte Darstellung eines opportunistischen Machtpolitikers? Und: Was würde Bismarck zu den gegenwärtigen Konflikten in Europa sagen? Wäre er in Sorge um die Stellung und Sicherheit Deutschlands?
Andreas Fahrmeir: Zunächst einmal gilt festzuhalten: Bismarck war nicht ausschließlich der Hardliner, als der er oft dargestellt wird. Bis zu seiner Ernennung zum preußischen Ministerpräsidenten 1862 war er lediglich ein preußischer Abgeordneter und Gesandter im Deutschen Bund in Frankfurt - ohne maßgebende Funktion im Staat. Und er war ein Außenseiter, dessen Loyalität zur Monarchie unter Liberalen und Sozialdemokraten nicht mehrheitsfähig war.
Aber dank seiner adeligen Herkunft konnte er sich die Politik leisten und auf seine Chance warten. Zwei Dinge kamen ihm dabei zugute: Dass er Politik im Dienste der Konservativen am Hofe betrieb, und dass er ein enges Vertrauensverhältnis zu König Wilhelm I. aufbaute, der ihn 1871 auch zum Reichskanzler ernennen sollte. Außerdem nutzte Bismarck den Verfassungskonflikt zwischen dem preußischen Landtag und der Krone, um als Vermittler aufzutreten, Koalitionen zu schmieden und sich so für den König unverzichtbar zu machen. Außerdem hatte er exzellente Kontakte in die Finanz- und Bankenwelt und verstand es, Geld für seine Kriege zu mobilisieren. Seine Karriere verdankte der standesbewusste Charaktermensch aber auch glücklichen Fügungen im preußischen Machtkonflikt. Sonst wäre er vermutlich nur als gescheiterter Verwaltungsbeamter und meinungsstarker Diplomat in die Geschichte eingegangen.
Und, auch das sei vorweg geschickt: Es gibt natürlich mehrere Lesarten Bismarcks. Die des klugen und erfolgreichen Staatsmannes; die des Nationalisten, für den Krieg gegen die Nachbarstaaten ein legitimes Mittel in der Politik war; und die eines Außenpolitikers, dem es um die Expansion Preußens und ein zunächst preußisches, dann deutsches Europa ging. Da kann sich jeder seinen Bismarck aussuchen.
Was waren Bismarcks Ziele in der Außenpolitik?
Bismarcks Ziel war ein starker Nationalstaat in der Mitte Europas, der sich nach Osten und Westen absichert. Denn natürlich war sich Bismarck der Tatsache bewusst, dass ein starkes Deutschland Bedenken bei den Nachbarn weckt oder gar für den ein oder anderen Staat ein Dorn im Auge war. Daher verfolgte er zwei Strategien.
Krieg und Frieden?
Ich würde es eher Konflikte lösen, wo es ging, und Konfrontation suchen, wo es sein musste, nennen. Oder anders formuliert: Es ging ihm um einen Interessenausgleich unter den europäischen Mächten, der zu einem Gleichgewicht der Kräfte führen und den großen (1914 folgenden) Krieg verhindern sollte.
Können Sie das näher erläutern?
Zum einen ging es Bismarck darum, das mit der Einigung gewachsene militärische Gewicht Deutschlands unsichtbar auszuspielen und durch eine geschickte Bündnispolitik Fakten zu schaffen, die Deutschlands Position und Sicherheit erhöhten. Bismarck gewann dazu das notwendige Vertrauen bei den Bündnispartnern und Konkurrenten, indem er als "ehrlicher Makler" auftrat wie beispielsweise auf der Berliner Konferenz 1878, wo er zwischen den Kolonialmächten Frankreich und England im Kongokonflikt vermittelt hatte. Und es gelang ihm glaubhaft zu vermitteln, dass Deutschland nach den Einigungskriegen gegen Dänemark (1864), Österreich (1866) und Frankreich (1870/71) saturiert war.
Zum anderen scheute Bismarck eben auch keinen Konflikt, wenn es seines Erachtens nötig war, deutsche Interessen zu verfolgen. Dafür stehen die Auflösung des Deutschen Bundes und die Einigungskriege sowie die Annexion Elsass-Lothringens. Europa war für Bismarck dabei das Mittel, die Arena oder das Forum zum Zweck nationaler Interessenpolitik im Sinne der Sicherheit und der Machterweiterung Deutschlands.
Man könnte Bismarcks Bündnispolitik auf eine Formel bringen: Es galt ihm, Frankreich zu isolieren und ein französisch-russisches Bündnis zu verhindern, das Deutschland in die Zange hätte nehmen können. Koste es, was es wolle. Und der Preis dafür war, die Sicherheitsinteressen des Zarenreichs zu akzeptieren und trotz bestehender Konflikte in seine Politik einzubeziehen. Das fiel Bismarck insofern leicht, als er als preußischer Gesandter lange in Sankt Petersburg war und die russische Sicht der Dinge kannte.
Also lebte Bismarck in einem Europa, das mit dem von heute nicht vergleichbar ist?
Ja. Und folglich hätte er auch große Probleme gehabt, sich ein Europa vorzustellen, wie wir es heute haben. Also mit einer starken EU-Kommission und mit Mitgliedstaaten, die in vielen Politikbereichen ihre Souveränität an Brüssel abgeben. Selbst für die Sicherheit und Verteidigung Europas und seiner Mitgliedstaaten ist ja seit vielen Jahren eine europäische Armee in Planung, und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat das ja kürzlich erst wieder ganz oben auf die EU-Agenda gesetzt. Und dabei gibt es, wenn man den Vergleich mal anstellen möchte, eine auffällige Parallele zwischen Bismarck und Juncker.
Eine Parallele zwischen dem Reichskanzler und dem EU-Kommissionspräsidenten? Das klingt spannend!
Ja. Juncker hat die Notwendigkeit einer europäischen Armee unter anderem damit begründet, in einem möglichen neuen Kalten Krieg mit Russland, wenn nicht militärisch gewappnet (was ja eine kriegerische Auseinandersetzung implizieren würde, die niemand möchte) so doch ein klares Zeichen an die Adresse Moskaus zu senden: Seht her, die EU ist ein Machtfaktor!
Juncker geht es dabei vermutlich um zwei Dinge: Stärke gegenüber einem Konkurrenten nach außen zu demonstrieren und in der EU jene Einheit zu erreichen, die in den letzten beiden Jahrzehnten im Lichte der internen Streitigkeiten um den richtigen Kurs in den Jugoslawienkriegen, im Irakkrieg und im Kampf gegen den internationalen Terrorismus arg gelitten hat. All das hat Juncker, der Routinier europäischer Politik, vor Augen. Ein vergleichbares Ziel verfolgte auch Bismarck, nur im nationalstaatlichen Rahmen: Es wurden äußere Feinde wie Frankreich als solche kreiert, um intern Einheit und Zusammenhalt zu erreichen. Das kann man als pragmatische und in jedem Fall produktive Nutzung auswärtiger Herausforderungen lesen.
Bismarck hätte also auf ein Europa mit starken und souveränen Nationalstaaten gesetzt anstatt auf eine Europäische Verfassung, der sich die Staaten unterordnen?
So kann man das sagen, ja. Denken wir nur an den föderalen Deutschen Bund, den Bismarck zu Grabe getragen hat. Er hätte sich ein Europa ausgemalt, in dem die Nationalstaaten ihre Souveränität nicht abgeben, möglichst viel Handlungsautonomie behalten und sich so wenig wie möglich an europäisches Recht binden. Das Völkerrecht spielte für Bismarck keine Rolle. Ihm schwebten eher die Regeln der guten alten Staatsdiplomatie vor. Und das am besten unter Führung eines großen und mächtigen Staates, der zwischen den kleineren Staaten in Konfliktfällen vermittelt, Interessen austariert und den Laden zusammenhält.
Also ein Europa unter Führung eines Landes. Der Hegemonialmacht Deutschland?
Das wäre für Bismarck durchaus die Idealkonstellation gewesen, ja.
Dann entspricht die Europapolitik von Angela Merkel den Vorstellungen, wie sie Bismarck damals hatte und heute hätte? Es geht um ein starkes Europa unter deutscher Führung?
Nur dann, wenn man Merkels Politik als eine versteckte deutsche Interessenpolitik in europäischem Gewande verstehen will - was aber aus meiner Sicht weder das einzige noch das dominante Motiv sein dürfte. Es geht der Kanzlerin wohl auch um Europa als Europa - um Europas Willen.
Und das scheint in Sorge. Ist der Konflikt in der Ost-Ukraine eine Gefahr für die europäische Sicherheit? Und wie wäre Bismarck mit Putin umgegangen?
Zunächst einmal gilt festzustellen: Die Außenpolitik Russlands wäre für Bismarck weder eine Überraschung noch ein Problem gewesen. Mit seinen Augen betrachtet verfolgt Putin vermutlich knallharte geostrategische und ökonomische Interessen. Und es geht Putin wohl neben Sicherheit für Russland auch um Prestige und Großmachtstatus, um damit andere Staaten in die Schranken zu weisen. Darum ging es auch Bismarck.
Also gibt es auch Parallelen zwischen Putin und Bismarck?
Ja. Das lässt sich auch an der anvisierten starken Position im eigenen Land festmachen. Dazu braucht man außenpolitische Erfolge - und sowohl die deutsche Bevölkerung und die Eliten damals wie auch die in Russland heute sehen in einer expansionistischen Politik allem Anschein nach einen Erfolg.
Zudem argumentiert Putin, dass er mit seiner Annexionspolitik auf der Krim nicht nur auf die Sicherheitsbedürfnisse russischer Bürger reagiert und nicht nur geostrategische Interessen in der für Russland traditionell wichtigen Schwarzmeer-Region verfolgt. Putin reagiert auch auf die vermeintliche "Einkreisung“ Russlands durch die Nato - und er wird Partner gegen das westliche Bündnis suchen, um Pufferzonen einzurichten und eine Drohkulisse aufzubauen. Das entspricht dem, was Bismarck Realpolitik nannte und so in jedes Lehrbuch über realistische Außenpolitik geschrieben hätte.
Das muss man als Historiker, Politikwissenschaftler oder Journalist nicht gut heißen und wird es sicher auch normativ verurteilen. Und dass es eher kurz- und mittel- als langfristig gedacht ist, steht ebenfalls auf einem anderen Blatt. Bismarck ging es, wie Putin, darum, kurzfristige Erfolge zu erreichen, Fakten zu schaffen und Zeit zu gewinnen. Was langfristig geschah, war für Bismarck zweitranging. Und manchmal hat man so das Gefühl, das gilt auch für Putin. Er wartet ab, wie sich die Dinge entwickeln, ohne klaren Plan B. Und noch etwas ist augenscheinlich: Was für Bismarck die deutsche Einigung war, ist für Putin das Wiedererstarken eines sowjetischen Russlands. Das Mittel war und ist Annexion und Krieg.
Was heißt das für den Konflikt in der Ost-Ukraine? Ist der zu lösen?
Putin hat Fakten geschaffen. Und es sieht so aus, als begnüge er sich mit der Krim und einer gespaltenen Ost-Ukraine. Das potentielle EU- und Nato-Mitglied, der 'worst case' für Russland, ist geschwächt - das reicht Putin.
Und was sollte die EU in der möglicherweise länger andauernden Konfliktphase mit Russland tun?
Das ist für einen Historiker immer eine schwierige Frage. Für die EU kann die Konstellation günstig sein - wenn sie den Zusammenhalt der west- und mittelosteuropäischen Staaten inklusive Griechenlands stärkt, indem Russland als wahrgenommene Gefahr die Integration in den bislang stockenden Bereichen Rüstung, Verteidigung und Europa-Armee beschleunigt. Sie kann aber auch schwierig sein, wenn sich in der EU unterschiedliche Positionen herausbilden, die dann von einzelnen Mitgliedstaaten "realpolitisch" ausgenutzt werden können. Dann könnten sich auch einzelne EU-Staaten Richtung Moskau bewegen und dort einen Verbündeten in konkreten Fragen suchen.
Abschließend: Ist ein Vergleich zwischen Bismarck und der Bundeskanzlerin, wie ihn das "Handelsblatt" angestellt hat, also nicht treffend? Ihr Kollege Heinrich August Winkler stellt Parallelen infrage und warnt davor, Bismarcks Russlandpolitik als Vorbild für die deutsche Außenpolitik und "deutsch-russische Sonderbeziehungen" heute zu nehmen.
Von Bismarck kann man viel über Außenpolitik lernen und beispielsweise Russlands Außenpolitik besser verstehen. Dabei sollte man Bismarck aber immer in (s)einen historischen Kontext setzen und kritisch hinterfragen. Und daran denken, dass Deutschland fest verankert ist im westlichen Bündnissystem - an der Seite Frankreichs.
Das Interview führte Alexander Reichwein
Zur Person: Prof. Dr. Andreas Fahrmeir promovierte 1997 in Cambridge und arbeitete danach am Deutschen Historischen Institut in London. Seit 2006 lehrt er Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt, wo er den Lehrstuhl des emeritierten Bismarck-Biographen Lothar Gall übernahm. Zu Fahrmeirs Forschungsschwerpunkten gehören die Politische Geschichte des 19. Jahrhundert und die deutsch-britischen Beziehungen.