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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Warten auf westliche Kampfjets "Das ist Terror gegen die Zivilbevölkerung"
Seit den Weihnachtstagen rollt eine neue russische Angriffswelle über die Ukraine. An eine Entspannung ist vorerst nicht zu denken.
Die vergangenen Tage waren in der Ukraine von stetigem Raketen- und Drohnenbeschuss durch die russischen Angreifer geprägt. Am 29. Dezember waren es mehr als 100 Raketen, die Russland auf die Ukraine abfeuerte, mindestens 30 Menschen kamen bei der Attacke ums Leben. Am heutigen Dienstag flogen erneut zahlreiche Raketen und zerstörten und beschädigten Ziele in mehreren ukrainischen Städten, darunter auch in der Hauptstadt Kiew.
In der Millionenstadt waren nach Berichten von Einwohnern laute Explosionen zu hören. In mehreren Stadtteilen gebe es Stromausfälle, schrieb Bürgermeister Vitali Klitschko auf Telegram. Es seien Anlagen der zivilen Infrastruktur getroffen worden; eine Gasleitung sei beschädigt. Auch Probleme mit der Wasserversorgung wurden gemeldet. In einem Hochhaus seien dreizehn Menschen verletzt worden, als eine Rakete einen Brand verursachte, schrieb Klitschko.
Auch aus anderen Landesteilen wurden Luftangriffe gemeldet. In der ostukrainischen Großstadt Charkiw wurde nach ersten Behördenangaben ein Mensch getötet; mehr als 20 Menschen seien verletzt worden.
Raketenangriff kommt vor Wintereinbruch
Ausgerechnet vor der Woche, in der Meteorologen einen Temperatursturz in weiten Teilen der Ukraine vorhersagen, nimmt Russland also erneut die zivile Infrastruktur mit der bisher schwersten Angriffswelle des Krieges ins Visier. "Diese Angriffe waren zu erwarten und werden vermutlich nicht die letzten sein", sagt der Militär- und Sicherheitsexperte Nico Lange im Gespräch mit t-online. Auch der russische Präsident Putin kündigte eine Intensivierung der Angriffe auf die Ukraine an. "Kein Angriff auf Zivilisten darf ungestraft bleiben", sagte Putin bei einer Veranstaltung in einem Militärkrankenhaus.
Russland bezeichnet die Angriffe als "Vergeltung" für mehrere mutmaßlich ukrainische Angriffe auf die Grenzregion Belgorod. Dieser russischen Lesart widerspricht Lange eindeutig: "Das ist Terror gegen die Zivilbevölkerung."
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Im vergangenen Jahr habe Russland Ziele wie Kraftwerke schon im Oktober attackiert. "Allerdings mussten die Russen feststellen, dass die Ukrainer ihre Infrastruktur schnell wieder reparieren konnten. In diesem Winter passieren die Angriffe deshalb viel später, kurz bevor es in der Ukraine richtig kalt wird", sagt Lange.
In den nächsten Tagen und Wochen könnten noch weitere dieser Angriffe bevorstehen, glaubt der Experte: "Die Russen haben Raketen produziert und aufgespart, damit sie diese großen Angriffswellen durchführen und die besser gewordene ukrainische Luftabwehr durch die schiere Masse an Raketen überfluten können."
Russen beschießen eigenes Dorf
Bei dem jüngsten schweren russischen Luftangriff auf die Ukraine ist ein Geschoss nach Angaben ziviler Behörden versehentlich in einem russischen Dorf im Grenzgebiet Woronesch eingeschlagen. Dadurch seien nach ersten Angaben sieben Gehöfte beschädigt worden, schrieb der Gouverneur des Gebiets, Alexander Gussew, am Dienstag auf Telegram. Verletzte gebe es nicht.
Der Vorfall ereignete sich demnach in dem Dorf Petropawlowka etwa 140 Kilometer von ukrainisch beherrschtem Territorium entfernt. Gussew sprach vom "versehentlichen Abgang" des Geschosses. Angaben zum Waffentyp machte er nicht. In sozialen Medien kursierten nicht authentifizierte Videos, die angeblich schwere Zerstörungen an mehreren Häusern des Dorfes zeigten.
Heftige Kämpfe im Osten
Von den verschiedenen Frontabschnitten wurden am Neujahrstag heftige Kämpfe gemeldet. Allein im Osten des Landes seien 38 Angriffe russischer Truppen abgewehrt worden, teilte der ukrainische Generalstab in Kiew am Abend mit. Der ukrainischen Raketenartillerie sei es gelungen, mehrere Aufmarschgebiete russischer Infanterie sowie Artilleriestellungen zu treffen. Diese Angaben können nicht unabhängig überprüft werden.
Dafür zahle Russland einen hohen Preis, sagt Nico Lange. Diese stünden in keinem Verhältnis zu den vergleichsweise geringen Geländegewinnen nördlich von Adijiwka und westlich der lange umkämpften Stadt Bachmut. "Dafür gibt es allerdings hohe Verluste – sowohl beim Material, als auch bei den Kombattanten", führt Lange weiter aus. Russland setze seine Soldaten dort als "Menschenmaterial" ein.
Kleine Fortschritte für die Ukraine in Region Cherson
In der Region Cherson soll die ukrainische Armee dagegen kleinere Geländegewinne verzeichnen können, berichtet der russische Militärblogger Voenkor Kotenok auf seinem Telegramkanal. Laut seinen Schilderungen habe sich die russische Armee aus dem Dorf Krynky zurückgezogen – wohl aus dem Grund, dass sie nur unzureichende Artillerieunterstützung bei der Abwehr eines ukrainischen Angriffs bekommen hätten.
An der Front geht der Stellungskrieg also weiter. Ein Grund dafür könnte die schlechte Ausbildung der ukrainischen Befehlshaber sein, sagt Nico Lange. "Die Ukrainer brauchen Unterstützung bei der Ausbildung auf der Ebene der Brigade oder höher", so der Sicherheitsexperte. Sonst könne man so eine komplexe Operation wie die langfristige Landesverteidigung nicht durchführen.
"Man kann sich nicht zusammenschießen lassen und nichts tun"
Auch müsse der Westen weitere Waffenkategorien liefern, führt Lange weiter aus. "Russland muss merken, dass es solche massiven Raketenangriffe nicht ungestraft durchführen kann", sagt der Experte. Deshalb müsse die Ukraine jetzt mehr ATACMS-Raketen mit größerer Reichweite oder die deutschen Taurus-Marschflugkörper bekommen. So könne die ukrainische Armee weiterhin Ziele auf der von Russland besetzten Halbinsel Krim angreifen und wichtige Nachschublinien der Russen zerstört werden. "Solche Angriffe wie der am 29. Dezember und am Dienstag müssen Kosten für Russland verursachen", sagt Nico Lange.
Dass der Ukraine nicht schnell genug alle Mittel zur Verteidigung geliefert werden können, liege auch am Westen. "Wir haben die Produktionskapazitäten für Flugabwehrsysteme und Lenkflugkörper nicht rechtzeitig erhöht", sagt Lange. Ebenfalls werde es einen Unterschied auf den Schlachtfeldern machen, wenn endlich die lange von der Ukraine geforderten F-16-Kampfflugzeuge eintreffen. Das Training der ersten designierten Piloten soll dabei schon abgeschlossen sein, berichtete das britische Verteidigungsministerium am 26. Dezember. Man warte derzeit nur auf die Lieferung der Jets. Nico Lange erklärt dazu: "Mit den Flugzeugen war es wie mit den Kampfpanzern: Es wurde viel Zeit mit Diskussionen verschwendet. Wenn sie endlich ankommen, müssen die russischen Kampfflugzeuge aus einer größeren Entfernung operieren."
In diesem Zusammenhang müssten sich die westlichen Verbündeten der Ukraine fragen, ob die "künstlich eingeführte Grenze", dass die Ukraine russische Luftwaffenbasen nicht angreifen dürfe, noch sinnvoll sei. "Man kann sich in den Städten nicht zusammenschießen lassen und gegen den Ursprung dieser Angriffe, also Luftwaffenbasen wie Engels in Russland oder Schiffe im Schwarzen Meer, nichts unternehmen", sagt Lange.
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
- Telefongespräch mit Nico Lange
- merkur.de: "Erstaunliche Erfolge gegen Russland: Ukraine setzt wohl schon F-16-Kampfjets ein"