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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg in der Ukraine Putins letzter Ausweg
Bisher wollte Putin der russischen Bevölkerung weismachen, dass Russland in der Ukraine gegen Nazis kämpfe. Nun propagiert der Kreml eine andere Geschichte.
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine tobt seit knapp 21 Monaten und niemand kann momentan verlässlich vorhersagen, wann und wie die Kämpfe enden sollen. Es ist ein Abnutzungskrieg mit hohen Verlusten auf beiden Seiten. Die russische Armee hat weite Teile seines Nachbarlandes zerbombt, Kreml-Chef Wladimir Putin spricht der Ukraine ihr Existenzrecht ab – einem Land, das viele Russinnen und Russen eigentlich als "Brudervolk" sehen.
Dieser Krieg, der Europa ins Chaos stürzte, begann mit einer kolossalen Fehleinschätzung im Kreml. Der damalige britische Verteidigungsminister Ben Wallace war einer der letzten westlichen Politiker, der vor dem russischen Überfall in Moskau war. "Sie werden kämpfen", soll Wallace laut der Arte-Dokumentation "Wer ist Wladimir Putin?" zu seinem russischen Amtskollegen gesagt haben. "Nein, werden sie nicht", soll Sergej Schoigu in dem Gespräch erwidert und auf seine ukrainische Verwandtschaft verwiesen haben. Ein Irrtum. Die Ukraine streckte die Waffen nicht.
Die Ukrainer kämpften und die russische Führung suchte nach Erklärungen: Warum sollten sich die Menschen gegenseitig töten, die noch in der Sowjetunion zusammenlebten? Warum sollten so viele russische Soldaten für die Besetzung eines Streifens ukrainischen Landes sterben? Und warum fährt Putin dafür die russische Wirtschaft vor die Wand?
Ohne eine massive Desinformationskampagne wäre es für Putin unmöglich gewesen, diesen Krieg seiner Bevölkerung als Notwendigkeit zu verkaufen, für die es sich zu sterben lohnt. Der Kreml nutzt dafür historische Feindbilder, die in der Gesellschaft tief verwurzelt sind. Erst kämpfte Russland angeblich gegen Nazis, dann gegen die Nato. Putin brauchte diese Feindbilder, um sein eigenes strategisches Versagen zu kaschieren.
Von Nazis zu Verrätern
Dafür orientierte sich die russische Propaganda zunächst an einer Erzählung, die der Kreml seit der Maidan-Revolution in der Ukraine 2013 streute: In der Ukraine hätten radikale Nationalisten die Macht ergriffen. Putin sprach in seinen Reden von der Unterdrückung der ukrainischen Bevölkerung durch angebliche "Faschisten". Auch der bekannte Putin-Propagandist und TV-Moderator Wladimir Solowjow schrieb in dieser Zeit täglich in seinen Telegram-Channel zur Ukraine: "Eine Entnazifizierung ist unvermeidlich!"
Russland würde also nun sein Nachbarland angreifen, um die Ukraine zu retten – vor ebendiesen Nazis. Natürlich war das eine Lüge, doch die russische Propaganda ließ sich von Fakten – wie demokratischen Wahlen in der Ukraine – nicht beirren. Im Gegenteil.
Putin hatte offenbar die Hoffnung, dass dieses Narrativ in der russischen Bevölkerung den Geist des Großen Vaterländischen Krieges wecken würde – dem Zweiten Weltkrieg, in dem die sowjetische Armee unter sehr großen Opfern Nazi-Deutschland besiegte. Die Erinnerung daran spielt auch im heutigen Russland eine große Rolle und Putin wollte dies für sich und seine imperialistischen Ziele nutzen.
Doch spätestens im Herbst 2022 wurde der russischen Führung offenbar klar, dass diese Strategie nicht aufgeht, die russische Öffentlichkeit glaubte die Botschaft schlichtweg nicht. Der Kreml führte eine Studie durch, die ergab, dass die Bevölkerung den Begriff "Entnazifizierung" nicht verstand und nicht glaubte, dass die Ukraine von Nazis beherrscht werde. Die Folge: Plötzlich hörte der russische Propagandaapparat auf, von einer Entnazifizierung zu sprechen.
"Zuerst zuschlagen"
Putin brauchte einen größeren und glaubwürdigeren Feind. Einen Feind, dessen Stärke erklärt, warum die hochgerüstete russische Armee immer mehr Rückschläge in der Ukraine erleidet. Auch dafür bediente sich der Kreml erneut eines historisch gewachsenen Feindbilds: Nun ist der zentrale Gegner die Nato – und vor allem die USA. In der russischen Propaganda wurden die ukrainischen Nazis zu westlichen Marionetten.
Der Ton wurde noch rauer: Es geht für Russland nicht mehr um die Rettung der Ukraine, sondern um einen Stellvertreterkrieg mit der Nato, in dem die Ukrainer die Verräter sind. Die unterschwellige Botschaft: Die Ukraine habe Russland historisch schon oft verraten und sich mit Feinden verbündet. Deshalb müsse sie aufhören zu existieren.
Dies war kein unkluger Schachzug, denn Putin nutzt das in Russland verbreitete Gefühl, dass der Westen das Land nach dem Fall der Sowjetunion nicht mehr ernst nehmen würde. Nun geht es nicht mehr um die Ukraine, sondern um ein Ehrgefühl, um Patriotismus und darum, sich westlichen Mächten entgegenzustellen, die Russland angeblich nicht mehr respektieren.
Der frühere russische Präsident und Putin-Getreue Dimitri Medwedew etwa verglich den Westen mit Schulhofschlägern. "Wenn du nach Hause wegläufst, bist du niemand", schrieb er im September 2022 auf Twitter (heute X). "Aber wenn man zuerst zuschlägt, sind die Chancen, die eigene Position zu verteidigen, deutlich höher. Deshalb ist es wichtig, dass das Land respektiert wird."
Diese Propaganda zeigte Erfolg: Viele Russen glauben offenbar gern, dass nicht Russland die Ukraine angegriffen hat. In ihren Augen waren es die USA, die den Konflikt provoziert und beide Seiten hineingezogen haben.
Putins Vermächtnis liegt in Trümmern
Zwar bedient sich die russische Propaganda damit des alten Feindbildes aus dem Kalten Krieg. Einen Unterschied gibt es dennoch: Die Sowjetunion stellte sich stets als die gute Supermacht dar, die für den Weltfrieden kämpfe, während die USA Kriegstreiber seien. In der heutigen Zeit legitimiert der Kreml sein Handeln mit einem Whataboutismus. Die Botschaft: Wir führen zwar Krieg, aber der Westen ist genauso bösartig.
Die russische Propaganda verbreitet die Botschaft, dass jede Supermacht das Recht auf Gewalt habe. Schließlich hätten auch die Amerikaner im Kosovo, in Afghanistan oder im Irak Kriege geführt. Die Lesart Putins: Warum sollte Russland nicht das Recht darauf haben? Schließlich sei das ein Privileg einer Supermacht.
Für Putin war es einer der letzten Auswege, um seinen Krieg zu legitimieren. Er hat sich den Mantel des Anti-Amerikanismus übergestreift und inszeniert sich als Vorkämpfer gegen die westliche Hegemonie und für eine multipolare Welt. Das kommt nicht nur in Russland gut an, sondern auch in Teilen des globalen Südens – in Ländern, die ebenfalls die westliche Vorherrschaft ablehnen. Das sichert Putin international zumindest etwas Rückendeckung, zum Beispiel aus China.
Putin spielt diese Karte erst spät aus. Dafür gibt es Gründe. Der Kreml-Chef wirft damit die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland um Jahrzehnte zurück – und holt das gegenseitige Misstrauen aus dem Kalten Krieg wieder hervor. Das erschwert nachhaltig Deals mit dem Westen und Putins Vermächtnis liegt schon jetzt in Trümmern. Denn eines gilt besonders in Russland: Keine Propaganda, keine Lügengeschichte überlebt einen Präsidenten, wenn eine neue Führung daran kein Interesse hat. Irgendwann wird der russische Angriff auf die Ukraine auch in Russland neu bewertet werden. Vor diesem Tag fürchtet sich Putin vermutlich.
- arte.tv: Wer ist Wladimir Putin?
- foreignaffairs.com: Putin’s New Story About the War in Ukraine (englisch)
- deutschlandfunkkultur.de: Verzerrtes Weltbild der Vergangenheit