Neues Debakel für Russland Mit dem Kopf durch die Wand
Seit zwei Wochen greifen Putins Truppen mit schweren Waffen bei Awdijiwka im Osten der Ukraine an. Die Bilder erinnern an frühere Debakel der russischen Armee.
Wenn die Angaben der ukrainischen Armee auch nur annähernd stimmen, erlebt Russland bei Awdijiwka gerade das größte militärische Debakel seit Langem. Allein von Donnerstag bis Freitag sollen Putins Truppen an dem nur fünf Kilometer langen Frontabschnitt 36 Kampfpanzer, 78 gepanzerte Fahrzeuge und fast 900 Soldaten verloren haben, so der ukrainische Generalstab. Doch zum Stillstand gekommen ist die russische Offensive damit nicht.
Seit Ende September versuchen die Besatzer, den Vorort der Regionalhauptstadt Donezk nördlich der Stadt zu erobern, bislang aber ohne nennenswerte Geländegewinne. Awdijiwka liegt wie eine ukrainische Enklave in russisch gehaltenem Gebiet, von Norden und Südwesten her droht Russland die Stadt einzukesseln, wie diese Karte des US-Thinktanks Institute for the Study of War (ISW) zeigt:
Seit dem 10. Oktober hat die russische Armee ihre Angriffe auf Awdijiwka verstärkt und ist in mehreren Angriffswellen mit Kampfpanzern und gepanzerten Truppentransporten auf die ukrainischen Stellen vorgerückt. Doch dabei stoßen die Russen auf ähnliche Schwierigkeiten wie die Ukrainer zu Beginn ihrer Offensive Anfang Juni.
Das Gelände ist weitgehend flach, gut einsehbar und bietet wenig Deckung. Außerdem hatten die ukrainischen Verteidiger viel Zeit, ihre Stellungen zu befestigen und das Schlachtfeld zu verminen. Auch die zunehmende Bedeutung der Drohnen zeigt sich bei Awdijiwka: Mit Überwachungsdrohnen hat die Ukraine ständig das Schlechtfeld im Blick, während Kamikazedrohnen russische Panzer oder sogar einzelne Soldaten ausschalten.
Zweite Angriffswelle noch verlustreicher
Die von ukrainischen Einheiten veröffentlichten Luftaufnahmen aus den vergangenen zwei Wochen lassen das russische Debakel erahnen und zeigen ein bekanntes Muster von früheren Angriffen: Zunächst rücken Kampfpanzer und gepanzerte Truppentransporter in einer Kolonne vor. Dann fahren die vorderen Fahrzeuge auf Minen oder werden von Panzerabwehrraketen, Drohnen oder ukrainischer Artillerie getroffen. Die übrigen Fahrzeuge scheren aus der Kolonne aus, Soldaten laufen in Panik in alle Richtungen davon und geraten unter heftigen Beschuss. Eine Auswahl der Bilder sehen Sie im Video oben.
Genau beziffern lassen sich die russischen Verluste bei Awdijiwka nur schwer. Die Stadt ist schon seit 2014 schwer umkämpft und die ganze Gegend übersät mit zerstörtem Kriegsgerät. Freischaffende Datenanalysten haben seit dem 10. Oktober aber mehr als 60 neue russische Fahrzeugwracks in der Umgebung der Stadt identifiziert:
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Doch das dürfte nur ein Teil der russischen Verluste sein. Nach Angaben der ukrainischen Armee verlor Russland allein in den ersten 96 Stunden der Offensive mehr als 30 Panzer, fast 100 Truppentransporter und bis zu 2.000 Soldaten, die getötet oder verwundet wurden. Noch verlustreicher für Russland soll die zweite Angriffswelle seit voriger Woche verlaufen sein, als den Angreifern das Überraschungsmoment fehlte: Bis Sonntag habe die russische Armee bei Awdijiwka jeden Tag Dutzende Fahrzeuge und etwa 1.000 Soldaten verloren, insgesamt bis zu 6.000 Soldaten, sagte der ukrainische Präsidentenberater Michailo Podoljak dem TV-Sender Doschd.
Russisches Debakel bei Wuhledar
Ein ähnliches Debakel wie jetzt bei Awdijiwka erlebten Putins Truppen zuletzt Anfang des Jahres bei Wuhledar im Südosten der Ukraine. Die Kleinstadt liegt auf einem Hügel, von dort aus kontrolliert die ukrainische Armee das umliegende Gelände mit Artillerie – ein lohnendes Ziel also für die Besatzer. Doch die wiederholten russischen Angriffe auf die gut befestigten ukrainischen Stellungen führten jedes Mal zu massiven Verlusten, ohne dass die Russen die Stadt erobern konnten. Erhebliche Verluste erlitten Putins Truppen auch im Kampf um Bachmut, diese Stadt fiel aber schließlich im Mai an Moskau.
Trotz der immensen Verluste will die russische Armee offenbar nicht von Awdijiwka ablassen. Nach Angaben des ISW verlegt sie gerade Einheiten von anderen Frontabschnitten nach Awdijiwka. Die momentane relative Ruhe an dem Frontabschnitt sei wohl nur eine Kampfpause, in der Russland versucht, seine Verluste zu kompensieren, schreibt das ISW. Es sei allerdings fraglich, ob die russische Armee ähnlich flexibel auf die neuen Herausforderungen reagiert wie die ukrainische Armee nach den Rückschlägen zu Beginn ihrer Offensive. Nach Ansicht des Militärexperten Gustav Gressel ist es zurzeit für beide Seiten schwierig, die festgefahrenen Fronten zu durchbrechen, sagte Gressel kürzlich t-online.
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Explodierende Panzerkonvois, Tausende tote Soldaten: Seit rund drei Wochen intensivieren die russischen Streitkräfte ihre Angriffe – zahlen dafür jedoch einen hohen Preis.
Denn laut dem britischen Verteidigungsministerium sind die russischen Verluste in der Ukraine um satte 90 Prozent angestiegen. Das liegt offenbar zu großen Teilen am Kampf um eine kleine Stadt im Osten des Landes.
Awdijiwka ist von großer strategischer Bedeutung. Die Stadt liegt unweit von Donezk im Donbass. Russische Truppen beißen sich derzeit die Zähne aus beim Versuch, Awdijiwka zu erobern.
Das führt zu hohen Verlusten an Personal und Material. Nach ukrainischen Angaben wurden allein Ende vergangener Woche knapp 900 russische Soldaten getötet, dazu etwa 50 Panzer sowie mehr als 100 gepanzerte Einheiten zerstört.
Trotz der kostspieligen Angriffe will Putin seine Offensive fortführen. Laut “Business Insider” baue das Land auf eine verstärkte Rekrutierungsstrategie, die auf finanzielle Anreize und eine Teilmobilisierung setze.
Diese zusätzlichen Personalressourcen seien der Schlüssel zu Russlands Möglichkeiten, Territorien zu halten und weitere Angriffe durchzuführen.
Zu den eigenen Verlusten bei Awdijiwka machte die ukrainische Armee keine Angaben. Die Kämpfe dort seien aber besonders hart, räumte Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner jüngsten Videobotschaft ein. Armeechef Walery Saluschny hatte die Truppen in Awdijiwka am Freitag besucht. Druck macht die russische Armee zurzeit auch an den Frontabschnitten bei Kupjansk und Lyman in der Region Luhansk. Dort hat die Ukraine am Sonntag nach eigenen Angaben mehr als 60 russische Angriffe abgewehrt.
- understandingwar.org: Russian Offensive Campaign Assessment, October 22, 2023 (englisch)
- facbook.com: Mitteilung des ukrainischen Generalstabs vom 20.Oktober (ukrainisch)
- forbes.com: The Russians May Have Lost 55 Tanks In One Day Trying, And Failing, To Capture Avdiivka (englisch)
- Material der Nachrichtenagenturen Reuters und dpa