Historiker verblüfft mit These "Die Mehrheit der Russen hatte es nie so gut wie jetzt"
Trotz oder gerade wegen des Krieges hat sich das Leben vieler Russen verbessert, sagt Historiker Sergej Tschernyschow. Einen Aufstand gegen Putin erwartet er nicht.
Jeden Tag sterben Hunderte russische Soldaten im Krieg gegen die Ukraine, die Wirtschaft ächzt unter Sanktionen und der Rubel ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Müssten die Russen nicht irgendwann gegen die Herrschaft von Kremlchef Putin aufbegehren? Oder das Regime sabotieren? Der russische Historiker Sergej Tschernyschow hält solche Erwartungen für naiv. Er sagt: Der Mehrheit im Land ging es nie besser als jetzt – und begründet seine These mit Beobachtungen aus seiner Heimatstadt.
Um welche Stadt es sich handelt, schreibt Tschernyschow in seinem Beitrag für die Webseite des in Tschechien ansässigen "Radio Free Europe" nicht. Er sei regelmäßig zu Besuch bei seinen Eltern, die in einem dörflich geprägten Teil der Großstadt lebten. Asphaltierte Straßen gebe es dort ebenso wenig wie eine Kanalisation. Handys, ausländische Autos und die ersten Gasleitungen hätten die Stadt erst vor wenigen Jahren erreicht. Doch die vermeintlichen Nachteile des Krieges würden die Menschen im Viertel gar nicht so empfinden, sagt Tschernyschow – im Gegenteil.
"Eltern sollen vor Stolz geweint haben"
Da sei zum Beispiel der stadtbekannte Trinker, Dieb und Hooligan aus der Straße seiner Eltern. Sein ganzes Leben lang sei der Mann immer wieder im Gefängnis gewesen, seine Zeit in Freiheit habe stets nur wenige Monate gewährt. "Wenn in diesen Zeiten irgendetwas in der Nachbarschaft gestohlen wurde, war er immer der erste Verdächtige", schreibt Tschernyschow. Dann habe der Mann für die Söldnertruppe Wagner in der Ukraine gekämpft. Jetzt sei er ein Kriegsheld: "Er hat eine Auszeichnung und ein brandneues Auto, seine Eltern sollen vor Stolz auf ihren Sohn geweint haben."
Andere würden ihren Kriegssold verprassen und das Leben genießen, berichtet Tschernyschow. In der Heimatstadt seiner Frau hätten drei Männer innerhalb von zehn Tagen umgerechnet 30.000 Euro für Sex und Alkohol ausgegeben. "Wer eine Familie hat, investiert das Geld lieber in Urlaub, eine Wohnung oder in ein Auto." Der Krieg vereine die Menschen aber auch ideologisch: "Viele haben das Gefühl, Teil einer großen Sache zu sein. So wie ihre Großeltern den Faschismus besiegt haben, würden sie jetzt die Nazis in der Ukraine bekämpfen", beschreibt Tschernyschow die Haltung seiner Landsleute.
"Zwei Drittel hatten diese Vorteile nie"
Kritik am Überfall auf die Ukraine sei auch von der älteren Generation nicht zu erwarten. "Die begrüßen die Rückkehr der Pioniere und des militärischen Drills samt Uniformen in den Schulen. Sie sagen, das wird aber auch Zeit, bevor die Jugend endgültig verlottert." Westliche Sanktionen, die Einschränkung der Reisefreiheit, die Verschärfung der Repressionen gegen Kremlkritiker und der Verfall des Rubel: Die Nachteile des Kriegs würden vor allem die Menschen in Moskau und Sankt Petersburg treffen, glaubt Tschernyschow.
"Zwei Drittel der russischen Bevölkerung hatten diese Vorteile nie und haben deshalb auch nichts durch den Krieg verloren." Auf dem Land würden Familien nicht durch die Flucht vor dem Kriegsdienst zerrissen, sondern weil die Männer entweder im Gefängnis sitzen, einberufen wurden oder freiwillig zur Armee gehen, um Geld zu verdienen. "Die meisten Leute sind nicht nach Georgien oder Kasachstan geflüchtet, die meisten haben nicht mal ihre eigene Stadt je verlassen." Die hohe Inflation sei für die russische Bevölkerung ebenfalls kein Grund, auf die Straßen zu gehen.
"Das Volk hat sowieso nie an Geschäfte geglaubt, die Menschen haben genug Kartoffeln und eingelegtes Gemüse für den ganzen Winter im Keller. Irgendwie werden sie durchkommen." Die großen Geldbeträge für Kriegsteilnehmer und das Gefühl, Teil einer größeren Sache zu sein, seien eine gefährliche Mischung: "Wer das nicht bedenkt, muss sich nicht wundern, wenn die Zustimmung zur herrschenden Putin-Partei dort am größten ist, wo die Menschen doch eigentlich am meisten unter dem Krieg leiden müssten."
- sibreal.org: Не жили хорошо. Сергей Чернышов о том, что приобрел и что потерял из-за войны российский народ (russisch)