"So, wie ich es sage" Bedrückende Szene – Putin staucht Museumsdirektor zusammen
In einer Sitzung gerät Wladimir Putin mit einem Historiker aneinander. Der wird ob der Fragen des Diktators immer nervöser. Schließlich sagt er, was Putin hören will.
Russlands totalitärer Herrscher Wladimir Putin neigt dazu, Untergebene vor laufender Kamera bloßzustellen. Auf diese Weise kanzelte er im Frühjahr 2022 seinen Geheimdienstchef ab, wenige Monate später traf es dann Verteidigungsminister Sergej Schoigu.
Nun erwischte es den Historiker Alexander Schkolnik. Der Direktor des Zentralmuseums des Großen Vaterländischen Krieges in Moskau wurde bei einer Sitzung des Pobeda-Komitees (zu deutsch: "Sieg-Komitee") vom russischen Machthaber in einen bizarren Diskurs verwickelt. Das Komitee traf sich im Rahmen einer vom Kreml organisierten Videoschalte, seine Aufgabe ist es, die russische Führung in Fragen der "patriotischen Unterrichtung" der russischen Bürger zu beraten. Sprich, der vom Kreml gewünschten Indoktrination der Menschen in Sachen Geschichte, wie Putin sie sehen will.
In dem Dialog, der sich während der Sitzung zwischen Putin und Schkolnik entspann, ging es um die Vernichtung der Juden in der von Deutschland besetzten Ukraine während des Zweiten Weltkriegs. Wir geben die durch das unabhängige russische Nachrichtenportal "Meduza" dokumentierte Passage hier ungekürzt wieder:
Putin: Wie viele Juden wurden in der Ukraine von den Nazis und ihren Kollaborateuren getötet, wie es der russische Chefrabbiner (Anm. d. Redaktion: der bei der Videositzung ebenfalls anwesend war) gerade berichtet hat?
Schkolnik: Darauf kann ich Ihnen keine genaue Antwort geben, Herr Putin.
Putin: Ich sage Ihnen, wie viele. Ich sage es Ihnen. Es waren anderthalb Millionen Menschen. Frauen, Alte, Kinder. Anderthalb Millionen Menschen. Wenn also während des Holocaust sechs Millionen Menschen von den Nazis umgebracht worden sind, dann sind das doch wohl ein Viertel davon. 25 Prozent aller Opfer. Und wer war dafür in der Ukraine verantwortlich, Herr Schkolnik?
Schkolnik: Nun, es entspricht den Tatsachen, dass dies von Ukrainern verübt worden ist, die –
Putin: Welche Ukrainer?
Schkolnik: – die sich den [Wehrmacht-]Einheiten angeschlossen haben.
Putin: Welche Ukrainer?
(Putin wendet sich ab und macht sich eine Notiz auf einem Zettel.)
Schkolnik: Was meinen Sie? Inwiefern?
Putin: So, wie ich es sage.
(Schkolnik scheint zunehmend nervös, er hält sich an seinem Wasserglas fest)
Putin: Es gab Ukrainer, die andere gerettet haben. Aber wer hat die Leute umgebracht?
(Putin streicht nun etwas auf dem Notizzettel durch, er schaut Schkolnik nicht an.)
Schkolnik: Die Nazis.
Putin: Ja. Aber es waren nicht nur die Nazis. Es waren dieselben Kollaborateure, über die der Chefrabbiner gerade gesprochen hat. Es waren die Banderiten (Anm. d. Redaktion: Anhänger des ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera) und seine Sippe, die die direkten Befehle gaben. Selbst die Deutschen, selbst die SS-Truppen, hatten es nicht für möglich gehalten, derartige Massenrepressionen umsetzen zu können. Sie haben alles in die Hände der lokalen Nationalisten und Antisemiten gegeben. Und alles, was wir gerade tun, dient nicht einem abstrakten Ziel. Diese Dinge haben einen konkreten Bezug zur Gegenwart. Also fordere ich sie auf, davon Notiz zu nehmen.
Schkolnik ist die Situation sichtlich unangenehm. Bei der Videokonferenz ist im Bild oben rechts Verteidigungsminister Sergej Schoigu zu sehen. Er hat Ähnliches auch schon erlebt. Auch er ist vom Diktator öffentlich zurechtgewiesen worden.
Der Dialog ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Putin den Holocaust für seine menschenverachtende Propaganda instrumentalisiert. Dabei vermischt er historische Fakten, russische Mythen und antiukrainische Propaganda zu einem gefährlichen Gebräu. Wenn er davon spricht, dass "alles, was wir gerade tun, keinem abstrakten Ziel" diene, sondern der Holocaust "einen konkreten Bezug zur Gegenwart" habe, rechtfertigt Putin in einer absonderlichen und an Zynismus kaum zu überbietenden Geschichtsverdrehung den brutalen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine mit der von den Nationalsozialisten entfachten und durchgeführten Vernichtung der europäischen Juden.
Richtig ist, dass in der Ukraine nach Angaben von Historikern 1,5 Millionen Juden im Holocaust ermordet wurden. Dabei kam es wie in anderen von der Wehrmacht besetzten Ländern – auch in Russland – zu Kollaborationen einheimischer Helfer, lokaler Miliz- und Polizeieinheiten mit den Deutschen. Richtig ist auch, dass der Ultranationalist Bandera vor allem in der Westukraine nach wie vor als Vorkämpfer der Unabhängigkeit des Landes gefeiert wird, in der russisch dominierten Ostukraine hingegen von vielen als Hitler-Anhänger verachtet wird.
In der Ukraine gilt Kritik an der historischen Figur spätestens seit der russischen Besetzung der Krim als eine Art Putin-Propaganda. "Ich denke, dass Bandera als Symbol des ukrainischen Freiheitskampfs gelten kann", sagte der frühere ukrainische Bildungsminister Serhij Kwit in der ARD-Sendung "Panorama". "Aber das muss man strikt trennen von der aktuellen politischen Krise in der Ukraine und dem Einfluss der russischen Propagandamaschinerie."
Während manche Historiker Bandera als Faschisten einordnen, bezeichnet ihn der Politikwissenschaftler Martin Malek als "Theoretiker des militanten Flügels der Organisation ukrainischer Nationalisten (OUN) und Apologeten terroristischer Methoden". Einig sind sich die Geschichtswissenschaftler hingegen, dass von Bandera aufgestellte Kampftruppen an Massakern an Juden beteiligt gewesen sind.
Nichts belegt jedoch Putins Behauptung, dass die Nazis "alles in die Hände der lokalen Nationalisten und Antisemiten gegeben" haben. Der Holocaust wurde auch in der Ukraine von den Ideologen und Bürokraten Hitlers systematisch geplant und durchgeführt.
"Verbreitung nachweislich falscher Erzählungen"
Nach der Sitzung gab Putin am Dienstag ein Interview, in dem er gegenüber dem russischen Propagandisten Pawel Zarubin seine spezielle Sicht auf die Geschichte noch einmal untermauerte. Darin behauptete er, dass die westlichen Staatslenker (er nennt sie "Manager") einen "ethnischen Juden" an die Spitze des ukrainischen Staates befördert haben, um die menschenfeindliche Natur der modernen Ukraine zu vertuschen. Gemeint ist der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, den Putin seit Beginn seines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges auf das Nachbarland als Nazi beschimpft – obwohl dieser jüdischer Herkunft ist.
Schkolnik scheinen solche Geschichtsverfälschungen nicht zu stören, auch nicht die Verschwörungstheorien, die der Kreml hartnäckig verbreitet und inzwischen in russischen Schulbüchern abdrucken lässt. Der Direktor des Moskauer Kriegsmuseums ist vielmehr einer der Protagonisten der Kremlpropaganda und steht als solcher auf den Sanktionslisten mehrerer Länder.
Er ist der erste hochrangige Kulturschaffende, dem diese zweifelhafte Ehre zuteilwurde. Laut britischen Behörden nutzte er seine Position als Kopf einer bedeutenden nationalen Kultureinrichtung, um "Desinformationskampagnen anzustoßen, einschließlich der Verbreitung der nachweislich falschen Erzählung, dass die Invasion der Ukraine durch russische Truppen nur der Entnazifizierung des Nachbarlandes dient".
So ganz sattelfest scheint der Historiker beim Verbreiten der putinschen Propaganda allerdings noch nicht zu sein, sonst hätte er während der Sitzung des Pobeda-Komitees vom Despoten keine Nachhilfelektion für Gründe und Ablauf des Holocaust benötigt, wie Putin ihn in seiner manipulativen Denkweise sehen will. Schkolnik erscheint übrigens auf der Webseite der Auschwitz-Birkenau Memorial Foundation immer noch als Mitglied der Internationalen Kommission der Stiftung.
- theartnewspaper.com: "Director of Moscow’s Second World War museum says he is 'proud' to be sanctioned over war in Ukraine" (englisch)
- meduza.io: "'Even the SS troops didn't consider it possible' Putin says 'local nationalists and anti-Semites' killed 1.5 million Jews in Ukraine during WWII" (englisch)
- meduza.io: "Putin says 'Western managers put an ethnic Jew in charge of Ukraine' to mask its 'anti-human nature’" (englisch)
- deutcshlandfunk.de: "'Nur wir haben überlebt' – Holocaust in der Ukraine. Zeugnisse und Dokumente"
- en.kremlin.ru: "Pobeda (Victory) Committee" (englisch)
- daserste.ndr.de: "Hitlers Helfer: wie Nationalisten die Ukraine weiter spalten"
- foundation.auschwitz.org: "International Committee" (englisch)
- nzz.ch: "Der Kreml lässt die "Nazis" tanzen – in Russlands Krieg gegen die Ukraine spielt der "jüdische Faktor" keine geringe Rolle"
- juedische-allgemeine.de: "Moskau manipuliert Holocaust für seine Propaganda"