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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg in der Ukraine Ein Schwarm stürzt sich auf Putins Russland
Die Ukraine greift Russland immer öfter mit Kampfdrohnen an. Wladimir Putin stellt das vor Probleme. Der Krieg scheint immer mehr auch in Russland anzukommen.
Es ist ein Kampf um jeden Kilometer, die Schlachten erinnern an die beiden Weltkriege: Panzer, Minenfelder, Soldaten, die in Schützengräben kauern, heftiges Artilleriefeuer. Reporter von der Front in der Ukraine berichten, dass sie noch nie so viele junge Männer gesehen hätten, die Gliedmaßen verloren haben. Der russische Angriffskrieg scheint die Zeit zurückzudrehen.
Das aber ist nur die eine Seite. Auf der anderen wird ein modernes Waffensystem im Kriegsverlauf immer wichtiger: Drohnen. Immer öfter gelingt es den ukrainischen Streitkräften, ganz unterschiedliche Drohnentypen effektiv einzusetzen – und das bringt den Kreml zunehmend in Bedrängnis.
In der Nacht zu Mittwoch erlebte Russland den größten ukrainischen Drohnenangriff seit Kriegsbeginn. Der Kreml berichtete von größeren ukrainischen Drohnenangriffen im Westen des Landes. Insgesamt seien mindestens sechs Regionen betroffen gewesen, teilten die Behörden am Mittwoch mit.
Die Ukraine hat dabei von der perfiden Kriegstaktik Putins gelernt, der schon früh im Kriegsverlauf den Einsatz von Kamikazedrohnen iranischer Bauart befohlen hatte, um die ukrainische Bevölkerung zu terrorisieren. Doch die Ukraine nutzt ihre Drohnenschwärme nicht für Terror gegen Zivilisten, im Gegenteil: Sie attackiert Russland mit Hunderten von Nadelstichen, die Kriegslogistik mitten ins Herz treffen.
Größter Drohnenangriff seit Kriegsbeginn
Beim jüngsten Drohnenangriff wurden auf dem Flughafen der Stadt Pskow vier Transportflugzeuge vom Typ Il-76 beschädigt, wie die russische Nachrichtenagentur Tass unter Berufung auf Rettungskräfte meldete. Zwei Maschinen seien in Flammen aufgegangen. Pskow, Hauptstadt der gleichnamigen Region, liegt rund 660 Kilometer nördlich der ukrainischen Grenze und nahe der Grenzen zu Lettland und Estland.
Doch damit nicht genug: Russische Behörden meldeten zudem, ukrainische Drohnen seien auch über den russischen Regionen Moskau, Brjansk, Orlow, Rjasan und Kaluga abgeschossen worden. In Brjansk habe die Ukraine versucht, mit den Fluggeräten einen Fernsehturm anzugreifen.
Insgesamt hat der britische Nachrichtensender BBC bisher 190 Drohnenangriffe in Russland gezählt. Am 23. August wurden bei einem mutmaßlichen Drohnenangriff in Belgorod drei Personen getötet, und einige Tage zuvor waren laut russischen Beamten fünf Menschen verletzt worden, als ein Bahnhof in der Region Kursk getroffen worden war. Hinzu kommen immer wieder Angriffe mit Seedrohnen auf russische Kriegsschiffe, Marinestützpunkte und die Krim-Brücke im Schwarzen Meer.
Die Ukraine verwandelt den Abwehrkrieg damit zunehmend in einen Drohnenkrieg. Aber warum – und welche Strategie steckt dahinter?
Verunsichern und lahmlegen
Analysten zufolge verfolgt die Ukraine mit ihren Drohnenangriffen drei übergeordnete Ziele. Und die haben teils eine große strategische Bedeutung:
1. Eine Botschaft der Stärke
Ein Ziel bestehe darin, "der Welt und ihren eigenen Bürgern die starke, öffentliche Botschaft zu senden, dass die Ukraine nicht untätig herumsitzt, sondern auf die russische Aggression reagiert", sagte der israelische Militärexperte Sergey Migdal am Dienstag der Deutschen Welle.
Natürlich haben die Angriffe einen symbolischen Wert. Angriffe, Explosionen und entsprechende Bilder davon sind auch für die ukrainische Propaganda wichtig. Denn abseits der Aktivitäten auf dem Schlachtfeld tobt zwischen Russland und der Ukraine auch ein Informationskrieg.
Mit den Drohnenangriffen sendet Kiew die Botschaft an die russische und an die ukrainische Bevölkerung, dass Wladimir Putin die Lage eben doch nicht in der Form unter Kontrolle hat, wie er es immer vorgibt. In der Ukraine soll das die Kriegsmoral steigern, in Russland Zweifel an der Führung wecken.
Und es scheint, als habe die Ukraine damit bereits Erfolg. In den Telegram-Kanälen russischer Militärblogger jedenfalls ist die Aufregung nach jedem Drohnenangriff groß. Vor allem auch Menschen, die sich im Netz als russische Patrioten geben, schäumen vor Wut – was ganz im Sinne Kiews ist, das Unruhe in Russland stiften will.
2. Die Wende im Abnutzungskrieg
Die ukrainische Armee weiß, dass der Konflikt mit Russland vor allem ein Abnutzungskrieg ist. Putin hält an seinen Kriegszielen fest, weil er davon ausgeht, dass seine Armee über längere Zeit Nachschub an Soldaten, Kriegsgerät und Munition bereitstellen kann. Deswegen geht es für Kiew auch darum, Ressourcen zu sparen.
Drohnen haben dabei für die Ukraine zwei entscheidende Vorteile: Sie sind im Vergleich zu Raketen deutlich billiger, und sie sind vielseitig einsetzbar. Sie können sowohl zur Aufklärung verwendet als auch mit Sprengstoff beladen werden. Wegen der vergleichsweise niedrigen Kosten können sie auch schwarmweise losgeschickt werden und Objekte angreifen, die für einen Raketen- und Marschflugkörperangriff nicht lohnend sind, etwa kleinere Treibstofflager. Die Ukraine riskiert mit diesen Angriffen keine Menschenleben, opfert dagegen nur vergleichsweise günstige Drohnen.
Die unbemannten Luftfahrzeuge sind zwar langsam und können somit von der Flugabwehr leichter abgefangen werden, aber eine Flugabwehrrakete eines russischen S-300- oder S-400-Systems ist zum Beispiel viel teurer als eine Drohne. Es ist eine Taktik, die Russland bereits im vergangenen Jahr gegen die Ukraine nutzte. Russland kombinierte Angriffe aus Drohnen und Raketen, um zunächst die Flugabwehr zu überlasten, um dann mit den Raketen den eigentlichen Schlag zu führen.
3. Schlag gegen die russische Kriegslogistik
Vielleicht das wichtigste Ziel der Ukraine ist allerdings die Störung der russischen Kriegslogistik. Dabei sollen die ukrainischen Streitkräfte mindestens neun Drohnentypen einsetzen, einige der Luftfahrzeuge können weit in russisches Territorium eindringen. Allerdings wird nach diversen Angriffen auch immer wieder darüber spekuliert, dass die Drohnen durch Sabotagetrupps von russischem Territorium aus gestartet werden.
Damit hat eine neue Phase des Krieges begonnen, in der die ukrainische Armee versuchen wird, Versorgungslinien der russischen Armee schon in Russland zu kappen.
"Diese Angriffe auf Moskau zielen nicht darauf ab, Millionen Menschen zu töten", sagte der israelische Militärexperte Yigal Levin der Deutschen Welle. Das sei weder notwendig noch sinnvoll. "Ziel ist vielmehr, den Luftraum und die Logistikkanäle Moskaus zu blockieren, Flughäfen und das Verkehrssystem lahmzulegen." Laut dem Experten gehe diese Taktik der Ukraine auf.
Experten bewerten die Wirkung der Angriffe zwar bisher als begrenzt, weil die ukrainischen Drohnen nicht dazu in der Lage sind, ganze Flugplätze zu zerstören oder die russische Luftwaffe auszuschalten. Trotzdem gilt es als wahrscheinlich, dass der Drohnenkrieg ausgeweitet wird. "Was wäre, wenn statt drei 33 oder 300 Kampfdrohnen von allen Seiten abgefeuert würden?", so der israelische Militärexperte Sergey Migdal zur Deutschen Welle. Die Ukraine könne Schwarmangriffe nutzen, um beispielsweise Moskauer Flughäfen dauerhaft lahmzulegen. Das wäre ein bedeutender Sieg für Kiew.
Wie reagiert Putin?
Für Russland und vor allem auch für Putin selbst sind die Drohnenattacken unangenehm. Sie zeigen einerseits die Verletzbarkeit Russlands, weil sie Lücken in der russischen Luftverteidigung offenlegen. Andererseits sucht Russland bisher vergeblich nach passenden Mitteln, um auf die Drohnenangriffe zu reagieren. Ukrainische Drohnen können Russland erreichen – ein Problem für Putin.
So wirkt es eher unbeholfen, dass Russland nun Schiffe vor der Krim-Brücke ankern lässt, um diese vor ukrainischen Seedrohnen zu schützen. Auf den ukrainischen Großangriff reagierte der Kreml mit der Ankündigung, die Attacken "nicht unbestraft" zu lassen. Die Folge waren russische Luftangriffe auf Kiew und andere ukrainische Ziele im Westen des Landes. Dabei ist allerdings unklar, ob diese Angriffe einen anderen strategischen Sinn als Rache hatten.
Aber die russische Reaktion zeigt, dass vor allem im Winter – in dem Bodenoperationen durch das Wetter schwieriger werden – mit einer Ausweitung des Drohnenkriegs zu rechnen ist. Im Vergleich zum vergangenen Jahr steht dabei aber nicht nur die Ukraine im Fokus, sondern immer mehr auch Russland.
- bbc.com: What do we know about drone attacks in Russia? (engl.)
- economist.com: Inside Ukraine’s drone war against Putin (engl.)
- reuters.com: Ukrainian drones strike six Russian regions (engl.)
- nzz.ch: Handelsübliche Kleindrohnen haben den Krieg an der Front in der Ukraine revolutioniert
- dw.com: Ukraine drone attacks on Moscow could escalate (engl.)
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa