Rückschlag für Kiew? Rasputiza – ein Phänomen erwartet die ukrainischen Truppen
Die militärischen Bemühungen Kiews gehen in eine entscheidende Phase. Ausgerechnet jetzt wird jedoch ein Phänomen erwartet, dass der Armee Kopfzerbrechen bereiten dürfte.
Als Napoleon im Jahr 1812 mit einer gewaltigen Streitmacht von 500.000 Soldaten seinen Russlandfeldzug startete, dabei tief in russisches Gebiet eindrang, schließlich Moskau eroberte, der russische Zar sich aber trotzdem nicht ergab, mussten der französische Kaiser und seine Generäle feststellen, dass sie etwas Entscheidendes außer Acht gelassen hatten: die Zeit.
Die Unternehmung hatte schlicht zu lange gedauert, um noch rechtzeitig vor Einbruch des russischen Winters zurückzukehren und die eigenen Truppen in Sicherheit zu bringen. Eine mörderische Flucht vor dem Wetter setzte ein. Als Napoleon die Kontingente schließlich in Ostpreußen sammelte, waren von einer halben Million Soldaten nur noch 50.000 am Leben. Klimatisch hat sich seitdem nicht viel geändert im Osten Europas.
Im vergangenen Jahr war es Russland selbst, dessen Truppen im Herbst 2022 in der Ukraine zum Stillstand kamen. Die Offensive zur Eroberung des Landes, wie Machthaber Wladimir Putin sie sich vorgestellt hatte, wurde in weiten Teilen von der berüchtigten Witterung gestoppt. Nun ist es die Ukraine, deren Gegenoffensive an ein natürliches Ende kommen könnte. Zumindest für dieses Jahr. Das Phänomen wird Rasputiza genannt.
Was genau bedeutet Rasputiza? Der Ausdruck stammt aus dem Russischen und heißt übersetzt so viel wie "Wegekreuzung", manche Quellen sprechen auch von einer "Weggabelung ins Nichts". Er wird verwendet, um auszudrücken, dass Straßen zu existieren aufhören. Im Ukrainischen wird dagegen das Wort Bezdorizhzhya für das Phänomen genutzt. Es tritt zweimal im Jahr. Weitere Synonyme sind "General Schlamm" und "die geheime Waffe der Ukraine", weil sie die russischen Vorstöße aufgehalten habe. Diese "Geheimwaffe" könnte sich nun gegen die Ukraine selbst wenden.
Worum handelt sich bei dem Phänomen? Rasputiza ist ein Wetterphänomen, das jedes Jahr im Frühjahr und im Herbst auftritt und die Tiefebenen der Ukraine und Russland erfasst. In dieser Zeit kommt es häufig zu einer Großwetterlage, die mehrere Wochen, manchmal sogar Monate anhält und die im Herbst mit viel Regen verbunden ist. Im Frühjahr hingegen ist es die einsetzende Schneeschmelze, die den Boden in den südlichen Regionen der Ukraine aufweicht und in regelrechte Schlammwüsten verwandelt.
Was bedeutet Rasputiza für den Krieg? Das Wetter spielt für die ukrainische Gegenoffensive eine ebenso wichtige Rolle wie für den völkerrechtswidrigen Überfall von Putins Truppen zu Beginn des Krieges. Insbesondere im vergangenen Jahr hatten die Streitkräfte des Kreml laut Analysen von Militärexperten zum Teil große Mühe, ihre mechanisierten Verbände in dem vom Regen aufgeweichten Boden zu bewegen.
Nun haben sich die Vorzeichen geändert, denn im Spätsommer 2023 ist die Ukraine in der Offensive, Russlands Armee hat sich hingegen in ihren Verteidigungslinien eingegraben. Das könnte es für die ukrainischen Truppen noch schwerer machen, signifikante Geländegewinne zu verzeichnen und die von Russland besetzten Gebiete zurückzuerobern.
Wann beginnt die Rasputiza? Meist setzen die ersten Regenfälle in den trockenen Ebenen der Südukraine Ende September oder Anfang Oktober ein. Dann verwandelt sich der feste, gut manövrierbare Untergrund in eine tiefe Schlammebene. Für die ukrainischen Truppen erhöht dies die Gefahr, unter feindliches Feuer zu geraten. Meist geht die Schlammperiode nahtlos in den Winter über, was in dieser Region das Aufkommen von sehr kalten Temperaturen mit Schnee und Eis bedeutet und größere Vorstöße der ukrainischen Streitmacht ebenfalls erschwert.
Wie sind die militärischen Aussichten? Die Armee Kiews wird ihre Bemühungen, Geländegewinne im Süden des Landes zu erzielen, wohl trotz Rasputiza nicht einstellen, schließlich ist das Wetterphänomen keine Neuheit für die ukrainischen Truppen. Ihre Generäle planen mit den veränderten meteorologischen Bedingungen. "Die Rasputiza gibt es ja seit Hunderten von Jahren", sagte der ehemalige australische Generalmajor Mick Ryan dem Portal "Yahoo News". "Für die Strategen ist das keine Neuigkeit. Schon bevor es Fahrzeuge gab, blieben Pferdegespanne im Schlamm stecken. Das heißt nicht, dass es leicht ist, aber es gibt dafür Lösungen." Ähnlich sieht es der österreichische Offizier Markus Reisner."Das ändert nichts an der Möglichkeit, die Truppen zu Fuß einzusetzen", sagte er im Interview mit n-tv.
Wie wirkt sich die Rasputiza auf die Gegenoffensive aus? Darüber gehen die Meinungen auseinander. Militärstratege Ryan sieht die Schlammperiode im Frühjahr, wenn in der Ukraine der Schnee schmilzt und den Boden in eine Schlammrutschbahn verwandelt, militärstrategisch als wesentlich komplizierter an als den Regen im Herbst. "Ich glaube nicht, dass es im Herbst genauso schlimm werden wird wie im Frühjahr."
Reisner hingegen räumt ein, dass auch die Regenfälle im Herbst den "großen Nachteil" mit sich brächten, dass die ukrainischen Truppen dann "nicht die Stoßkraft entwickeln können wie Panzerverbände, die einen trockenen Boden brauchen". Er erwartet daher schon bald eine "Phase des Innehaltens", in der sich beide Armeen darauf konzentrieren werden, ihre Lage militärisch zu konsolidieren.
So oder so spielt der Faktor Zeit für die Ukraine eine immer größere Rolle. Denn je länger die Gegenoffensive dauert, desto größer wird die Ungeduld ihrer Unterstützer. In den vergangenen Tagen wurden bereits Stimmen aus dem Umkreis der US-Regierung laut, die deutliche Kritik am militärstrategischen Vorgehen Kiews übten. Der ukrainische General Walerij Saluschnyj konterte daraufhin erstmals brüsk und verbat sich jegliche Einmischung von außen. Der Ton unter den Verbündeten wird also rauer.
- hdbg.eu: "Rückzug Napoleons beim Russlandfeldzug 1812"
- ustoday.news: "The return of "Rasputitsa" and its implications for Russia’s war in Ukraine" (englisch)
- cnbc.com: "Retired Australian major general breaks down the Ukrainian counteroffensive" (englisch)
- theguardian.com: "Mud season in Ukraine leaves Russian tanks stuck in mire" (englisch)
- thedailybeast.com: "This Apocalyptic Vehicle Is Rescuing Survivors in Ukraine" (englisch)
- youtube.com: "‘Rasputitsa’ and its role in Russia’s war on Ukraine" (englisch)