Gegenoffensive Hoher Militär hat keine gute Prognose für die Ukraine
Ein Vier-Sterne-General verpasst den Aussichten der Ukraine in Sachen Gegenoffensive einen Dämpfer. Er sieht Russlands Fähigkeiten kaum geschwächt.
Erst in dieser Woche sind die Ergebnisse zweier repräsentativer Umfragen bekannt geworden, nach denen die Ukrainer Zugeständnisse gegenüber dem Aggressor Russland mit überwältigender Mehrheit ablehnen. Demnach sind mehr als 90 Prozent der rund 2.000 Befragten dagegen, einige der von den russischen Truppen völkerrechtswidrig besetzten und zum Teil annektierten Gebiete an den Feind abzutreten. Ein deutliches Votum.
Russland soll sich nach dem Willen der Ukrainer nichts vom Territorium ihres Landes einverleiben dürfen. Dazu zählt auch die bereits 2014 durch Russland völkerrechtswidrig annektierte Halbinsel Krim. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kiew alle seine Gebiete befreien kann, wird jedoch mit jedem Tag, den die Gegenoffensive dauert, geringer. Die ukrainischen Truppen kommen nur langsam voran, die Verluste sind hoch und die Verbündeten im Westen tun sich schwer damit, dem Land weitere, reichweitenstärkere Waffensysteme zur Verfügung zu stellen. Allen voran Deutschland.
So zeigen sich inzwischen auch die Militärexperten der Europäischen Union zunehmend skeptisch gegenüber den anvisierten Kriegszielen Kiews. "Es bleibt fraglich, ob die volle Souveränität der Ukraine mit den zur Verfügung stehenden Mitteln wiederhergestellt werden kann", sagte der Vorsitzende des Militärausschusses der EU, General Robert Brieger, der Zeitung "Welt" zufolge. Der Ausschuss ist das höchste militärische Gremium der EU, ihm gehören die Generalstabschefs der 27 Mitgliedstaaten an.
Brieger gibt sich in dem Interview nicht allzu optimistisch, was die militärischen Erfolge der Ukraine an der Front angeht. "Ich wäre auch vorsichtig, einen Durchbruch der ukrainischen Streitkräfte durch die russischen Verteidigungslinien zu erwarten. Die Zahl der Brigaden, die Kiew bei der Offensive zur Verfügung stehen, ist überschaubar. Andererseits hatte Russland über Monate Zeit, dicht gestaffelte und gut abgesicherte Verteidigungslinien aufzubauen."
Deutschland verzögert den Prozess seit Wochen
Diesen entscheidenden Vorsprung in der Sicherung der völkerrechtswidrig besetzten Gebiete könnte Russland auch dadurch bekommen haben, dass der Westen zum Teil sehr lange brauchte, um der Ukraine die für eine Gegenoffensive notwendigen Waffensysteme zur Verfügung zu stellen. So hat es nach der Lieferung von Panzern, etwa des Typs Leopard, erneut ein halbes Jahr gedauert, bis dem Land dringend benötigte Kampfflugzeuge des Typs F-16 in Aussicht gestellt wurden. Diese werden nun von den Niederlanden und Dänemark geliefert.
Deutschland tut sich hingegen nach wie vor schwer, seine Entscheidungen in Sachen Militärhilfe zügig zu treffen. So lässt sich das Kanzleramt seit Wochen entschuldigen, wenn es um die Lieferung von "Taurus"-Marschflugkörpern geht. Es müsse erst alles sorgfältig geprüft werden, heißt es dort. In dieser Zeit sterben in der Ukraine jeden Tag viele Soldaten einen grausamen Tod.
Die F-16-Kampfflugzeuge und die "Taurus"-Marschflugkörper, so sie denn irgendwann einmal geliefert werden, wären zwar ein qualitativer Sprung, aber kein "Gamechanger", also eine kriegsentscheidende Veränderung, sagte Niklas Masuhr, Forscher am Center for Security Studies der Universität ETH in Zürich. "Die russische Logistik hinter der Front zu treffen, war immer ein wichtiger Aspekt für die Ukraine", sagte Masuhr. Das wäre mit "Taurus"-Raketen wegen der größeren Reichweite besser möglich als bisher.
"Selbst eine minimale ukrainische F-16-Flotte kann dafür sorgen, dass die russische Luftwaffe sich vorsichtiger verhalten muss", sagte Masuhr. Die Ukraine könne sie damit von der Front besser fernhalten. "Die russische Luftwaffe müsste Waffen aus größerer Distanz abwerfen oder mit höherem Risiko fliegen."
Kaum Hoffnung auf Erfolge an der Front
Für die laufende Gegenoffensive der Ukraine kommen diese Systeme aber wohl zu spät. In der Ukraine geht der Sommer zu Ende und mit dem Beginn des Herbstes setzt auch dort das schlechte Wetter ein, die Bodenverhältnisse ändern sich. Auf schlammigen Böden sind die ukrainischen Truppen aber noch mehr im Nachteil gegen die russischen Besatzer als ohnehin schon. Zudem müssen die Piloten der ukrainischen Luftwaffe erst an den neuen Kampfflugzeugen ausgebildet werden, ebenso wie die Soldaten, die etwaige "Taurus"-Marschflugkörper bedienen sollen.
Vier-Sterne-General Brieger hat daher kaum Hoffnung auf einen raschen Erfolg der Ukraine an der Front. "Es bleibt ein Abnutzungskrieg, der derzeit keinen Sieger erkennen lässt. Dass dieser Krieg durch einen militärischen Erfolg der Ukraine beendet wird, wäre wünschenswert, ist aber nicht prognostizierbar", sagte er der "Welt". Er zeigte sich überzeugt, "dass Russland den Krieg in der Ukraine noch über einen sehr langen Zeitraum weiterführen kann".
Die militärischen Fähigkeiten Moskaus seien durch die Sanktionen des Westens nicht wesentlich beeinträchtigt worden. "Hinzu kommt, dass Russland über eine sehr große Masse an Waffen und ein gewaltiges Reservoir an potenziellen Einsatzkräften verfügt. In diesen Punkten ist Russland der Ukraine deutlich überlegen."
- nzz.de: "Deutsche Marschflugkörper für die Ukraine – Die Bundesregierung darf nicht mehr zögern"
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
- tagesschau.de: ""Taurus"-Marschflugkörper: Große Reichweite, große Zerstörungskraft"
- understandingwar.org: "Russian Offensive Campaign Assessment, August 22, 2023" (englisch)
- washingtonpost.com: "The potent U.S. arsenal for Ukraine’s counteroffensive" (englisch)
- press.un.org: "Security Council Speakers Argue Over Western Countries Supplying Arms That Support Ukraine’s Right to Self-Defence Against Russian Federation’s Aggression" (englisch)