Rückzug an der Front Das lassen Putins Soldaten in Schützengräben zurück
Um den Durchbruch noch zu schaffen, muss sich die Ukraine durch ein Netz russischer Schützengräben kämpfen. In den eroberten Stellungen der Russen findet sich immer wieder Überraschendes.
Ukrainische Truppen erobern schrittweise von Russland besetztes Gebiet zurück. Die im Juni gestartete Sommeroffensive geht allerdings langsamer voran als geplant: Kiew konnte bisher rund 300 Quadratkilometer befreien. Noch immer sind knapp 90.000 Quadratkilometer (rund 17 Prozent) des ukrainischen Staatsgebiets von Russland besetzt.
Der lange angekündigte Großangriff gegen die russische Invasionsarmee hat sich nach teils schweren Verlusten für beide Seiten in einen Abnutzungskrieg verwandelt: Statt wie zu Beginn ihre schweren Brigaden in russische Minenfelder zu schicken, setzt die Ukraine neben Angriffen gegen die russische Kriegslogistik verstärkt auf Artillerie und Vorstöße kleinerer Einheiten.
"Sie waren nur noch Skelette"
Bislang konnte die Ukraine ein knappes Dutzend Dörfer an der über 1.000 Kilometer langen Frontlinie befreien. Was die russischen Soldaten dabei zurücklassen, gibt einen Einblick in den Alltag der Invasionstruppen:
Wie die "New York Times" im Juli aus dem befreiten Dorf Nowodarjiwka in der Südukraine berichtete, fanden ukrainische Soldaten in ehemaligen russischen Stellungen Preiselbeersirup, dreckige Socken und einen Teebeutel mit der Aufschrift "Für den Sieg".
Auch sonst schienen sich die Invastionstruppen auf einen längeren Aufenthalt eingestellt zu haben: In einem verlassenen Haus hatte ein russischer Soldat "Von Wladikawkas, Skif" in die Wand geritzt. Wladikawkas ist eine südrussische Stadt nahe der georgischen Grenze, "Skif" vermutlich der Kampfname des Soldaten. Mittlerweile ist Nowodarjiwka wieder in ukrainischer Hand.
In Ruinen und Schützengräben fanden die Ukrainer auch die Leichen sieben ihrer Kameraden. Die ukrainischen Kämpfer wurden offenbar schon im April 2022 bei der Verteidigung des Dorfes gegen russische Angriffstruppen getötet. Seither lagen sie in Nowodarjiwka, sie konnten erst jetzt geborgen werden. "Sie waren nur noch Skelette", zitiert die "New York Times" einen ukrainischen Offizier.
Hochbetten, Steckdose, Fernseher
Nowodarjiwka liegt im südukrainischen Gebiet Saporischschja, an der Orichiw-Achse, der Hauptachse der ukrainischen Gegenoffensive. Das Ziel des Gegenstoßes ist Experten zufolge, die russischen Linien in Saporischschja zu durchbrechen und das Asowsche Meer zu erreichen. Damit hätte die Ukraine die russische Landbrücke zur Krim durchtrennt und die russischen Versorgungslinien empfindlich gestört.
Doch bis dahin ist der Weg weit. Die russischen Verteidigungslinien haben sich zudem als effektiv erwiesen. Die Kreml-Armee hatte mehrere Monate Zeit, um sich auf den ukrainischen Angriff vorzubereiten. Die Zeit nutzte sie: Über Hunderte Kilometer erstrecken sich die russischen Minenfelder, Panzersperren und Schützengräben.
Tatsächlich sind die Schützengräben an manchen Stellen längst keine einfachen Gräben mehr – sondern verstärkte und ausgebaute Befestigungsanlagen. Der russische Kriegsblogger CortadorZ zeigt Fotos eines russischen Schützengrabens, der an den Wänden mit Holz und Span verkleidet ist, über eine Metalltür verfügt sowie einen Schlafraum mit Hochbetten, Steckdosen, Stromnetz und sogar einen Fernseher.
Gestorben und zurückgelassen in einem Erdloch
Nicht immer können die Russen ihre Defensivanlagen so gut ausbauen. Mala Rohan im Gebiet Charkiw im Nordosten der Ukraine wurde bereits im März 2022 von ukrainischen Truppen befreit, wenige Wochen nach Beginn der russischen Invasion. t-online-Reporter besuchten im vergangenen Mai die Stellung und fanden neben Militärgerät und Gasmasken auch Gegenstände des täglichen Gebrauchs: Rasierschaum von Gillette, Kosmetiktaschen, Dosenfleisch.
Auch ein Heft zur Behandlung von Brandwunden lag im Gras. Darin wird etwa davon abgeraten, sich die Kleidung abzureißen, die an der Verbrennung klebt, oder Blasen aufzustechen. Geholfen hat es offenbar nur bedingt. In einem notdürftig ausgehobenen Schützenloch lagen damals die Leichen zweier russischer Soldaten. Die Russen hatten sie bei ihrem Rückzug liegen lassen.
Diese Erdlöcher, in die gerade mal ein, zwei Personen passen, werden dann ausgebuddelt, wenn Soldaten akut unter Beschuss stehen und keine Zeit haben, Schützengräben zu errichten. Die schlecht geschützte Stellung in Mala Rohan zeigt auch, wie kritisch der Faktor Zeit beim Bau von Befestigungsanlagen ist. Hier hatten die Russen nur wenige Wochen Zeit, um sich auf einem Hügel in der Nähe zu verschanzen – zu wenig, um für den ukrainischen Gegenangriff gewappnet zu sein.
Schilderungen der ukrainischen Armee zufolge starben die beiden russischen Soldaten durch ukrainische Artillerie. Ein koordinierter Angriff ziviler Drohnen aus China, Artillerie und schnellem Vorrücken ukrainischer Infanteristen habe die russische Einheit in Mala Rohan vertrieben, so ein ukrainischer Offizier damals zu t-online. Niemand schien sich damals um die Leichen zu kümmern, die bereits stark nach Verwesung rochen. "Sollen sie doch verrotten", sagten damals Anwohner zu t-online.
- nytimes.com: "Dirty Socks and Rotting Bodies: What Russians Left Behind in the Trenches" (englisch, kostenpflichtig)