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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Rückschlag für Putin im Schwarzen Meer Ein Sturm zieht auf
Dem Frachtschiff "Joseph Schulte" ist die Durchfahrt durch einen ukrainischen Korridor im Schwarzen Meer geglückt. Das stellt Russland vor eine bittere Erkenntnis.
Es gibt einen Durchbruch. Nicht an den russischen Verteidigungslinien in der Ukraine, sondern auf hoher See. Nach anderthalb Jahren Wartezeit wegen des russischen Angriffskriegs hat das Containerschiff "Joseph Schulte" am Mittwoch den ukrainischen Hafen Odessa am Schwarzen Meer verlassen. Als erstes Schiff nutzte es einen temporären Korridor, der von und zu den Seehäfen der Ukraine führt, wie der ukrainische Vizeregierungschef Olexander Kubrakow auf Facebook mitteilte.
Eine Sprecherin der Hamburger Reederei Bernhard Schulte bestätigte, dass das Schiff die ukrainischen Gewässer erfolgreich durchquert habe. Danach steuerte es durch rumänische Gewässer – also das Hoheitsgebiet der Nato – und wird am Donnerstagabend bereits in Istanbul erwartet.
Kremlchef Wladimir Putin stellt das vor die bittere Erkenntnis, dass er das Schwarze Meer nicht wie geplant unter russische Kontrolle stellen kann. Im Gegenteil: Die Ukraine schafft es erfolgreich, die russische Seemacht von Land aus zu bedrohen, und auch die Nato steigert ihre Präsenz in dem Gewässer. Der Kampf um das Schwarze Meer spitzt sich zu.
Was bedeutet die Durchfahrt der "Joseph Schulte" durch das Schwarze Meer für den Seekrieg? Verliert Russland gar die Kontrolle über das strategisch wichtige Gewässer? t-online beantwortet die wichtigsten Fragen.
Wie konnte die "Joseph Schulte" die russische Seeblockade überwinden?
Wie genau das Frachtschiff der deutschen Reederei die russische Blockade überwunden hat, ist noch unklar. Tage zuvor hatte die russische Marine noch mit Warnschüssen andere Frachtschiffe von der Durchfahrt abgehalten.
Fest steht nur, dass die "Joseph Schulte" dabei als erstes Schiff einen von der Ukraine eingerichteten temporären Korridor nutzte, der entlang ukrainischer Seehäfen führt. Er kann von Handelsschiffen auf eigenes Risiko genutzt werden. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verkündete auf der früher als Twitter bekannten Online-Plattform X: "Die Ukraine hat einen wichtigen Schritt zur Wiederherstellung der Freiheit der Schifffahrt im Schwarzen Meer getan."
Ob der Korridor dauerhaft von der Ukraine geschützt werden kann und ob weitere Schiffe die Durchfahrt riskieren, ist allerdings unklar.
Verliert Russland seine maritime Kontrolle über das Schwarze Meer?
Teilweise. Russland hat zu Kriegsbeginn zunächst die kleine ukrainische Marine ins Visier genommen und fast vollständig zerstört. Das Kräftegleichgewicht auf See hat sich seither kaum verschoben.
Allerdings hat Moskau wahrscheinlich nicht mit der Kreativität der ukrainischen Streitkräfte gerechnet. Zunächst war die Rückeroberung der Schlangeninsel vor der westlichen ukrainischen Küste im Schwarzen Meer ein wichtiger strategischer Schritt für die Ukraine. Damit gelang es den ukrainischen Streitkräften, russische Kriegsschiffe von Land aus zu bedrohen.
Dabei vertraut Kiew vor allem auf zwei Waffensysteme: Auf Seedrohnen und auf Antischiffsraketen, die von Land aus abgefeuert werden.
Es ist zwar unklar, wie die Ukraine den Seekorridor genau schützt, Selenskyj machte aber auch dazu eine Andeutung: "Drohnen sind die Augen und der Schutz an der Front. (...) Drohnen sind eine Garantie dafür, dass Menschen nicht mit ihrem Leben bezahlen müssen in Fällen, in denen Drohnen eingesetzt werden können", sagte er in seiner abendlichen Videoansprache. Die Ukraine sei dabei, die Produktion der unbemannten Objekte erheblich zu steigern.
Es ist also wahrscheinlich, dass die "Joseph Schulte" möglichst nah entlang ukrainischen Festlandes fuhr. Laut dem Schiffsinformationsdienst Marine Traffic steuerte der Frachter in rumänische Gewässer unweit des Ortes Sfântu Gheorghe.
Wie reagierte Russland?
Die russische Armee versuchte in der Nacht erneut, ukrainische Häfen anzugreifen – wahrscheinlich, um weitere Schiffe von Durchfahrten abzuhalten. Die USA verurteilten die Angriffe auf ukrainische Häfen an der Donaumündung, die für den Getreideexport wichtig sind.
Kremlchef Wladimir Putin sei die weltweite Ernährungssicherheit egal, sagte ein Sprecher des US-Außenministeriums. Die Angriffe führten zu einer weiteren Eskalation der globalen Ernährungskrise und hielten die Lebensmittelpreise hoch. Das treffe diejenigen, die besonders auf das Getreide angewiesen seien, und ukrainische Landwirte.
Was bedeutet das für den Seekrieg?
Putin steht vor einem Dilemma. Kriegsschiffe sind teuer, und jedes versenkte russische Schiff stärkt die ukrainische Kriegsmoral. Obwohl Russland im Schwarzen Meer noch Kriegsschiffe und vor allem auch U-Boote stationiert hat, fällt es der russischen Marine schwer, sich vor ukrainischen Seedrohnen zu schützen. Immer wieder kommt es zu Angriffen auf die Krim-Brücke oder auf den Hafen in Sewastopol auf der von Russland illegal besetzten Halbinsel Krim.
Für die Ukraine ist die Küste am Schwarzen Meer existenziell für die heimische Wirtschaft. In den Angriffen im Schwarzen Meer sieht Kiew gleich dreifachen Nutzen: Zum einen ist jedes versenkte russische Kriegsschiff ein Propagandaerfolg in einer Zeit, in der die ukrainische Offensive nur langsam vorankommt. Außerdem zeigt die Ukraine mit den Angriffen, dass sie keinen Quadratmeter ihres Territoriums verloren gibt – auch die Krim nicht. Darüber hinaus soll die Ausweitung des Krieges auf russische Häfen Putins Wirtschaft weitere Probleme bringen.
Mehr als drei Prozent des weltweit verwerteten Öls und der Ölprodukte werden über das Schwarze Meer transportiert.
Warum ist das Schwarze Meer für Putin so wichtig?
Der Kreml schien in den Anfangsmonaten der Invasion die Strategie zu verfolgen, die Ukraine vom Schwarzen Meer abzuschneiden. Das ist vorerst gescheitert. Aber Russland hat seit Kriegsbeginn drei große ukrainische Häfen besetzt. Es hat die Gewässer stark vermint, die ukrainische Marine neutralisiert und eine Blockade der zivilen Schifffahrt zu den verbliebenen ukrainischen Häfen verhängt.
Putin betrachtet das Schwarze Meer als russisches Gewässer, die völkerrechtswidrige Annexion der Krim 2014 gehört zum Kern seiner Kriegsideologie. Die ideologische Bedeutung geht sogar so weit, dass der Kreml seine Bevölkerung ermutigt, auf der Krim Urlaub zu machen – trotz Drohnenattacken und ukrainischer Angriffe auf die Krim-Brücke.
Die Kontrolle über das Schwarze Meer ist für Russland also ein entscheidendes Kriegsziel. Putin versucht seit Jahren, seinen Einfluss rund um das Gewässer zu vergrößern. So investiert Russland in die Entwicklung von Küstenhäfen und Urlaubsstädten und die russische Militärmacht an Marinestützpunkten in der Region. Es geht auch darum, die Nato im Schwarzen Meer zurückzudrängen, doch der Plan Putins scheint nicht aufzugehen.
Wie groß ist das Konfliktpotenzial mit der Nato?
Es wächst. "Russlands Vorgehen in den internationalen Gewässern des Schwarzen Meeres birgt die reale Gefahr, dass es zu einem Seekrieg zwischen der Nato und Russland kommt", sagte der ehemalige US-Admiral James Stavridis dem Magazin "Politico" am Mittwoch. Es sei gefährlich, wenn die russische Marine Schiffe in internationalen Gewässern abfängt und versucht, die Ukraine wirtschaftlich in den Würgegriff zu nehmen.
Ein entscheidender Faktor für die Durchfahrt der "Joseph Schulte" war, dass das Schiff durch Nato-Gewässer steuern konnte. Die Nato ist mit ihren Mitgliedsstaaten Türkei, Bulgarien und Rumänien direkter Anrainer des Schwarzen Meers – und schon vor Beginn des russischen Angriffskrieges gab es Spannungen mit Russland. Im Sommer 2021 etwa steuerte der britische Zerstörer "HMS Defender" ins Schwarze Meer, woraufhin russische Kampfjets vier Fliegerbomben auf den Kurs des Schiffes abwarfen. Muskelspiele, die fast zu einer Eskalation geführt hätten.
Russlands Krieg in der Ukraine hat die Lage weiter verschärft. Die Nato unternimmt Überwachungsflüge über dem Gewässer, im März zwangen russische Kampfjets eine US-Drohne zum Absturz. "Das Schwarze Meer ist jetzt ein Konfliktgebiet – ein Kriegsgebiet, das für die Nato genauso relevant ist wie die Westukraine", sagte Ivo Daalder, ein ehemaliger amerikanischer Nato-Botschafter, der "New York Times" Anfang August. In der Tat ist die russische Aggression eine Gefahr – auch für Nato-Häfen im Schwarzen Meer.
- politico.eu: Russia risks war with NATO in Black Sea, former top commander in Europe warns (engl.)
- nytimes.com: How the Black Sea Became a Hot Spot in the War (engl.)
- n-tv.de: Für Krim-Urlaub nehmen Russen alle Risiken in Kauf
- spiegel.de: Atomdrohungen, Muskelspiele und ein Nadelöhr
- sz.de: Russland warnt britischen Zerstörer angeblich mit Bomben
- zdf.de: Schwarzes Meer zunehmend Kriegsbrennpunkt
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa