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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Putins Pläne im Schwarzen Meer Die Nato-Sorgen wachsen
Durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine ist das Schwarze Meer zum Brennpunkt geopolitischer Spannungen geworden. Das stellt auch die Nato vor neue Herausforderungen.
Sie kommen leise und oft in der Nacht. Ukrainische Seedrohnen jagen russische Schiffe im Schwarzen Meer. In Videos, die vom ukrainischen Verteidigungsministerium veröffentlich wurden, fahren sie unbemerkt auf Schiffe zu – dann explodieren die bis zu 450 Kilogramm Sprengstoff.
Am vergangenen Wochenende traf es den russischen Tanker "Sig" und offenbar das Landungsschiff "Olenegorski gornjak". Russland hat die Attacken teilweise eingeräumt.
Nachdem das Schwarze Meer zuletzt nur selten im Fokus des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gestanden hatte, häufen sich inzwischen die Kämpfe. Das Meer wird zunehmend Teil des Schlachtfelds, das beliebte Urlaubsgebiet ein gefährlicher Kriegskessel.
Das ist kein Zufall. Denn: Zu den Anrainerstaaten zählen neben der Ukraine und Russland auch drei Nato-Staaten, was die Spannungen weiter erhöht. Hinzu kommt, dass das Gewässer wichtig ist für die Getreideausfuhren der Ukraine. Fast kurios wirkt da zudem, dass das Meer gerade jetzt im Sommer ein beliebtes Ziel für Touristen ist: Auf der Krim machen viele Russen Urlaub, auch an Stränden in der Türkei, Bulgarien oder Rumänien sonnen sich Tausende Menschen.
Das Meer der Gegensätze
Im Schwarzen Meer treffen aktuell zwei Welten aufeinander:
Längst ist das Meer durch Wladimir Putins Krieg zum Gewässer der Gegensätze geworden – in dem die Ukraine, Russland und die Nato teilweise sehr unterschiedliche Interessen verfolgen. t-online gibt einen Überblick über die Lage im Schwarzen Meer aus drei Perspektiven:
1. Ukraine: Erfolge trotz fehlender Kriegsmarine
Für die Ukraine ist die Küste am Schwarzen Meer existenziell für die heimische Wirtschaft. Den Zugang zum Asowschen Meer hat die Ukraine im ersten Jahr zwar vorerst verloren, aber mit der Rückeroberung von Cherson durch die ukrainische Armee erscheinen weitere russische Vorstöße in Richtung Odessa aktuell als unwahrscheinlich.
Das Problem für die Führung in Kiew: Die Ukraine verfügt eigentlich nicht über eine Kriegsmarine. Die russische Seehoheit kann sie deshalb nur mit Seeminen, Anti-Schiffsraketen und Drohnen brechen. Ein Achtungserfolg: Die russische Schwarzmeerflotte musste deshalb von Sewastopol nach Noworossijsk verlegt werden, Kriegsschiffe halten nun Abstand zur ukrainischen Küste.
"Mit jedem neuen Kampfeinsatz werden ukrainische Kampf- und Marinedrohnen immer präziser, das Bedienungspersonal wird erfahrener, die Kampfkoordination effektiver", schrieb der ukrainische Sicherheitssekretär Olexij Danilow auf Twitter, das nun X heißt. Er kündigte mehr Einsätze in weiterer Entfernung an.
In den Angriffen im Schwarzen Meer sieht die Ukraine gleich dreifachen Nutzen: Zum einen ist jedes versenkte russische Kriegsschiff ein Propagandaerfolg in einer Zeit, in der die ukrainische Offensive nur langsam vorankommt. Außerdem zeigt die Ukraine mit den Angriffen, dass sie keinen Quadratmeter ihres Territoriums verloren gibt – auch die Krim nicht. Darüber hinaus soll die Ausweitung des Krieges auf russische Häfen Putins Wirtschaft weitere Probleme bringen.
Mehr als 3 Prozent des weltweiten Öls und der Ölprodukte werden über das Schwarze Meer transportiert.
2. Russland: Kernstück für Putins ideologischen Kampf
Der Kreml schien in den Anfangsmonaten der Invasion die Strategie zu verfolgen, die Ukraine vom Schwarzen Meer abzuschneiden. Das ist vorerst gescheitert. Aber Russland hat seit Kriegsbeginn drei große ukrainische Häfen besetzt. Es hat die Gewässer stark vermint, die ukrainische Marine neutralisiert und eine Blockade der zivilen Schifffahrt von und zu allen von der Ukraine kontrollierten Häfen verhängt.
Putin betrachtet das Schwarze Meer als russisches Gewässer, die völkerrechtswidrige Annexion der Krim 2014 gehört zum Kern seiner Kriegsideologie. Die ideologische Bedeutung geht sogar so weit, dass der Kreml seine Bevölkerung ermutigt, auf der Krim Urlaub zu machen – trotz Drohnenattacken und ukrainischer Angriffe auf die Krimbrücke.
Noch im Juli schlug der russische Verkehrsminister Witalij Saweljew bei einem Treffen mit Putin vor, russische Bürger sollten nach Möglichkeit durch den Landkorridor auf die Halbinsel reisen. Moskau wirbt also für Reisen durch ein Kriegsgebiet.
Putin möchte offenbar vor seiner Bevölkerung den Eindruck von Normalität vermitteln, er fürchtet den militärischen Untergang im Schwarzen Meer. Doch für einige Russinnen und Russen, die zeitweise nach den Angriffen auf die Krimbrücke die Halbinsel nicht verlassen konnten, wurde der Urlaub zum Albtraum. "Uns wurde gesagt 'Kommt auf die Krim, hier ist es sicher' – wir haben es geglaubt. Und wie kommen wir nun nach Hause?", beschwert sich etwa ein russischer Tourist aus St. Petersburg auf Telegram.
Die Kontrolle über das Schwarze Meer ist für Russland ein Kriegsziel. Putin versucht seit Jahren, seinen Einfluss rund um das Gewässer zu vergrößern. So investiert Russland in die Entwicklung von Küstenhäfen und Urlaubsstädten und die russische Militärmacht an Marinestützpunkten in der Region. Es geht auch darum, die Nato im Schwarzen Meer zurückzudrängen und gute Beziehungen zur Türkei zu pflegen. Doch der Plan Putins scheint nicht aufzugehen.
3. Die Nato: Sorge vor der großen Eskalation
Die Nato ist mit ihren Mitgliedsstaaten Türkei, Bulgarien und Rumänien direkter Anrainer des Schwarzen Meers – und schon vor Beginn des russischen Angriffskrieges gab es Spannungen mit Russland. Im Sommer 2021 etwa steuerte der britische Zerstörer "HMS Defender" ins Schwarze Meer, woraufhin russische Kampfjets vier Fliegerbomben auf den Kurs des Schiffes abwarfen. Muskelspiele, die fast zu einer Eskalation geführt hätten.
Russlands Krieg in der Ukraine hat die Lage weiter verschärft. Die Nato unternimmt Überwachungsflüge über dem Gewässer, im März zwangen russische Kampfjets eine US-Drohne zum Absturz. "Das Schwarze Meer ist jetzt ein Konfliktgebiet – ein Kriegsgebiet, das für die Nato genauso relevant ist wie die Westukraine", sagte Ivo Daalder, ein ehemaliger amerikanischer Nato-Botschafter, der "New York Times" Anfang August. In der Tat ist die russische Aggression auch eine Gefahr für wichtige Häfen in Rumänien oder Bulgarien – beide Länder sind Nato-Mitglieder.
Rumänien kontrolliert 30.000 Quadratkilometer im Schwarzen Meer. Doch das ist nicht einfach: In der Wirtschaftszone des Landes tauchen regelmäßig russische Schiffe auf. Deswegen ist die rumänische Marine stetig in Alarmbereitschaft, zumal rumänische Häfen zentral für die Versorgung der Ukraine und für den Export des ukrainischen Getreides sind.
Eine Sonderrolle in dem Konflikt um das Schwarze Meer nimmt derweil die Türkei ein. Präsident Recep Tayyip Erdoğan kontrolliert zwar den Bosporus, aber er fürchtet auch eine weitere Eskalation mit Russland vor seiner Haustür und sieht deshalb Nato-Missionen in dem Binnengewässer kritisch.
Die Türkei hat ihre Verbündeten gebeten, keine Kriegsschiffe zu entsenden, und Erdoğan konnte sich lediglich Ruhe verschaffen, indem er russischen Kriegsschiffen die Durchfahrt verbietet. Dadurch ließ auch der Druck der USA auf die Türkei nach, doch die Nato will künftig mehr Präsenz in der Region zeigen.
Letztlich hat sich im Schwarzen Meer ein hochfragiles Spannungsfeld aufgebaut. Die Nato unterstützt zwar die Ukraine, aber sie möchte gleichzeitig eine direkte Eskalation mit Russland vermeiden und die Exporte von Getreide und russischem Öl weiterhin über das Gewässer ermöglichen. Ein schwieriges Ziel in einem Meer, in dem sich die Lage immer mehr verschärft.
- nytimes.com: How the Black Sea Became a Hot Spot in the War (engl.)
- n-tv.de: Für Krim-Urlaub nehmen Russen alle Risiken in Kauf
- spiegel.de: Atomdrohungen, Muskelspiele und ein Nadelöhr
- sz.de: Russland warnt britischen Zerstörer angeblich mit Bomben
- zdf.de: Schwarzes Meer zunehmend Kriegsbrennpunkt
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa