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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Angst vor dem Super-GAU Warum in Saporischschja ein Atomunfall drohen könnte
Auf dem Gelände des Atomkraftwerks Saporischschja in der Südukraine wurden Minen gefunden. Die größte Gefahr droht allerdings aus einem anderen Grund.
Am Sonntag konnten Expertinnen und Experten der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) das von Russland besetzte Atomkraftwerk Saporischschja in der Südukraine begehen. Dabei fanden sie am Rande des Geländes Antipersonenminen.
In einer Mitteilung erklärte IAEA-Direktor Rafael Grossi, sein Team habe die Minen zwischen der inneren und der äußeren Absperrung des Atomkraftwerks entdeckt. Die Angestellten des AKWs hätten dort keinen Zutritt. Im inneren Bereich der Anlage – wo sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bewegen – seien keine Minen gefunden worden.
Minen sind wohl nicht die größte Gefahr
"Solche Sprengstoffe auf dem Gelände zu haben, steht im Widerspruch zu den Sicherheitsstandards und den Richtlinien zur nuklearen Sicherheit der IAEA und erzeugt zusätzlichen Druck auf das Anlagenpersonal", erklärte der IAEA-Direktor am Montag. Eine große Gefahr gehe von den Minen allerdings nicht aus, so Grossi.
Trotzdem bleibt die Lage am größten Atomkraftwerk Europas weiterhin zugespitzt. Das liegt allerdings nicht an den nun gefundenen Minen – sondern daran, dass russische Truppen einen der Reaktoren im Kraftwerksblock 4 in den Zustand der sogenannten heißen Abschaltung versetzt haben.
Im Zustand der "Nulllast heiß", wie dieser Zustand auch heißt, produziert der Kraftwerksblock zwar keinen Strom. Allerdings erreicht das Primärsystem im Block eine Betriebstemperatur von 290 Grad Celsius, so Nikolaus Müllner von der Universität für Bodenkultur in Wien im Gespräch mit t-online. Und das hat möglicherweise dramatische Folgen.
Höherer Verbrauch an Kühlwasser
Ein Problem beim Betrieb des Kraftwerksblocks in der Einstellung "Nulllast heiß" ist die Ableitung von Nachzerfallswärme. Die entsteht durch den Zerfall kurzlebiger Spaltprodukte nach der eigentlichen Abschaltung des Reaktors und muss während der heißen Abschaltung über einen Dampferzeuger im Kraftwerksblock abgeführt werden.
"Je länger ein Reaktor abgeschaltet ist, desto niedriger ist die Nachzerfallswärme", führt Nikolaus Müllner aus. Kritisch wird es allerdings, wenn nicht mehr genug Kühlwasser vorhanden ist. Denn das Wasser hilft dabei, die Wärme aus dem Kraftwerksblock abzuführen.
Das AKW Saporischschja bezieht sein Kühlwasser aus dem Kachowka-Stausee, dessen Wasserspiegel pro Tag laut ukrainischen Angaben um etwa einen Zentimeter sinkt. Besorgniserregend ist das nicht, allerdings ist der Betrieb eines Reaktorblocks im Zustand "Nullast heiß" auch nicht wirklich förderlich, da mehr Kühlwasser benötigt wird.
Wartung nur im Zustand der kalten Abschaltung möglich
Anders ist das beim Betrieb des Kraftwerksblocks im Zustand der kalten Abschaltung, erklärt Müllner. "Dabei wird der Reaktor auf eine Betriebstemperatur von unter 100 Grad Celsius abgekühlt. Das Kühlsystem läuft und der Dampferzeuger wird nicht benötigt", sagt der Experte.
Die kalte Abschaltung ist der Zustand, in dem Kraftwerksblöcke gewartet werden können. Anstehende Wartungsarbeiten sind laut Juri Tschernitschuk, dem von Russland eingesetzten Leiter des AKW Saporischschja, auch der Grund, warum der Kraftwerksblock 4 in den Zustand der heißen Abschaltung versetzt wird. Denn der Kraftwerksblock 5, der bisher auf "Nulllast heiß" lief, soll gewartet werden – und deshalb auf "Nulllast kalt" laufen.
Russische Motive unklar
Was die russischen Besatzer überhaupt damit bezwecken wollen, dass sie Kraftwerksblöcke auf "Nulllast heiß" laufen lassen, ist unklar. Die Regularien der ukrainischen Atomaufsichtsbehörde SNRIU sehen eigentlich vor, dass alle Blöcke des Atomkraftwerks im Zustand "Nulllast kalt" laufen.
"Meine Vermutung ist, dass der Betrieb des Kraftwerksblocks 4 im Zustand 'Nulllast heiß' die Vorbereitung ist, um einen Reaktor wieder hochzufahren", sagt Nikolaus Müllner. "Aus welchen Gründen auch immer".
Der Betreiber der ukrainischen Atomkraftwerke, Enerhoatom, warnt indes davor, Kraftwerksblock 4 in den Zustand "Nulllast heiß" zu versetzen. Im Falle eines Unfalls würde in diesem Zustand bedeutend mehr radioaktives Material freigesetzt, als wenn der Kraftwerksblock im Zustand "Nulllast kalt" liefe.
- Gespräch mit Nikolaus Müllner
- derstandard.de: "Wie sicher ist die Lage im AKW Saporischschja nach dem Dammbruch?"
- chemie-schule.de: "Nachzerfallswärme"
- kernenergie.ch: "So funktioniert ein Kernkraftwerk"
- iaea.org: "Update 175 – IAEA Director General Statement on Situation in Ukraine" (englisch)
- tsn.ua: "Россияне собираются перевести четвертый энергоблок ЗАЭС в "горячую остановку": почему это крайне опасно" (ukrainisch)
- abc.net.au: "Mines found at Ukraine's Russian-occupied Zaporizhzhia nuclear plant, UN watchdog says" (englisch)