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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Schlagabtausch mit Russland Baerbock will Putin an den Kragen
Außenministerin Baerbock attackiert Russland im UN-Sicherheitsrat scharf – doch politisch kann sie wenig ausrichten. Stattdessen nimmt Moskau die Welt erneut in Geiselhaft.
Patrick Diekmann berichtet aus New York.
Es ist auch ein Ausdruck von Machtlosigkeit: Seit über 500 Tagen tobt der blutige russische Angriffskrieg in der Ukraine, und der internationalen Gemeinschaft ist es bisher nicht gelungen, Wladimir Putin so zu isolieren, dass seine wichtigsten Verbündeten ihn fallen lassen. Der russische Überfall auf die Ukraine hat einmal mehr gezeigt, dass auch der UN-Sicherheitsrat bei der Bewahrung von Frieden wenig ausrichten kann, wenn sich der Westen und Russland gegenseitig blockieren.
Deshalb wurden auch vor der Sitzung des UN-Sicherheitsrates am Montagabend in New York keine großen Fortschritte erwartet. Es gab scharfe Angriffe auf Russland, vor allem auch durch Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), aber auch Appelle, den Krieg zu beenden. Doch zur Wahrheit gehört, dass die russische Seite das relativ kalt ließ.
Der Mini-Schlagabtausch Baerbocks mit Russland wird zwar zum Punktsieg für die deutsche Außenministerin. Die Fronten bleiben jedoch verhärtet und die Diplomatie steht auf dem Abstellgleis, während Russland weiterhin ein Fünftel der Ukraine besetzt hält und täglich Hunderte Menschen sterben. Und Putin? Der Kremlchef hat die Welt erneut in Geiselhaft genommen – er kämpft immer schmutziger.
Entführung ukrainischer Kinder durch Russland
Deutschlands Außenministerin fokussierte sich in ihrer Rede vor dem Sicherheitsrat auf ein Thema: die Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland. "'Mama, komm' und hol mich.' Dies waren die Worte, auf die Natalya Zhornyk verzweifelt gewartet hatte", so Baerbock in ihrer Rede. Sie erzählte die Geschichte einer Mutter aus der Ukraine, deren Sohn nach Russland verschleppt wurde.
"Seit ich von diesen Verbrechen erfahren habe, kann ich nicht aufhören, mir vorzustellen, wie ich mich fühlen würde, wenn diese Kinder meine eigenen zwei kleinen Töchter wären", so die Grünen-Politikerin. Die verschleppten ukrainischen Kinder müssten Russisch sprechen und die russische Nationalhymne singen. Damit solle ihre Identität gelöscht werden, damit "ihre Eltern sie nie wieder finden", so Baerbock in ihrer Rede.
In der Tat wurden Tausende ukrainische Kinder gewaltsam nach Russland verschleppt. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag wertet das als Kriegsverbrechen und hatte deswegen im März Haftbefehl gegen Kremlchef Putin und die russische Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa erlassen.
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Baerbocks Rede war im Vergleich zu denen ihren Vorredner im UN-Sicherheitsrat emotionaler. Einige Zuhörerinnen und Zuhörer auf der Gästetribüne sprachen nach Baerbocks Rede von "Gänsehaut". Der russische Vertreter wirkte während der Rede der deutschen Außenministerin die meiste Zeit geistesabwesend, aber andere hörten zu. Und das waren Baerbocks eigentliche Adressaten.
Ausbau der Koalition gegen Putin
Denn die diplomatische Strategie der Bundesregierung und des Westens scheint sich derzeit vor allem darauf zu fokussieren, die internationale Koalition gegen Putin zu erweitern. Es gibt momentan kaum Hoffnung, dass Putin verhandeln möchte. Er hält an seinen Kriegszielen und seiner brutalen Kriegsführung fest.
Doch Putin noch mehr zu isolieren und seine wichtigsten Partner ins westliche Lager zu holen, ist ein komplizierter Prozess, der viel Diplomatie erfordert. Denn natürlich stehen die Verbündeten Russlands nicht aus Sympathie zu Putin, sondern sind teilweise von Moskau abhängig – etwa von russischen Waffen- oder Rohstofflieferungen.
Deswegen fokussierte sich Baerbock auch auf die Kindesentführungen. Deutschland wisse, dass viele afrikanischen Staaten zwar skeptisch bei Waffenlieferungen seien, aber bei der Verschleppung Minderjähriger gebe es eine ähnliche Haltung, erklärten westliche Diplomaten in New York t-online. Auch Baerbock deutete das in ihrer Rede an: "Ich weiß, dass Kolleginnen und Kollegen aus Afrika, Asien und Lateinamerika dasselbe empfinden."
Zuletzt hatte eine afrikanische Delegation Butscha in der Ukraine besucht, in der die russische Armee und prorussische Söldner systematisch Zivilisten ermordeten und andere Kriegsgräuel anrichteten. In diplomatischen Kreisen ist seither davon die Rede, dass der Butscha-Besuch die Sicht einiger afrikanischen Länder auf den Ukraine-Konflikt geändert habe.
China steht weiter zu Russland
Die Luft für Putin wird also immer dünner. Doch das motiviert das russische Regime nicht zu Eingeständnissen – zumindest noch nicht. Auch der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba kritisierte Russland in New York scharf, unter anderem für die Aussetzung des Getreideabkommens. Die Regierung in Moskau verliere zusehends die Kontrolle: "Putins Regime wird von Tag zu Tag schwächer. Und die jüngste Wagner-Meuterei hat es nicht nur der ganzen Welt, sondern auch den Russen selbst vor Augen geführt."
Russlands UN-Vizebotschafter Dmitri Poljanski sprach dagegen von einem "Stellvertreterkrieg der Nato gegen Russland". Bei dem Konflikt in der Ukraine handle es sich um eine private Militärkampagne von Washington, London und Brüssel. Im UN-Sicherheitsrat verbreitete er ein buntes Potpourri der bekanntesten russischen Lügen aus dem letzten Jahrzehnt. Kurz zusammengefasst: Der Westen sei aus russischer Perspektive für alles verantwortlich, vom Abschuss des Flugzeuges MH17 bis hin zum Krieg in der Ukraine.
Letztlich weiß das russische Regime wahrscheinlich, dass ein Großteil dieser Lügen in der internationalen Gemeinschaft nicht verfangen. Im Gegenteil: Der Druck auf Russland wächst, und die Länder, die Putin durch ihre Neutralität unterstützt haben, werden immer weniger. Große Sorgen macht sich der Kremlchef darüber allerdings nicht. Sein wichtigster Verbündeter China steht auch weiterhin an der Seite des Kremls.
Der chinesische UN-Vertreter erklärte im Sicherheitsrat am Montag, dass Peking weiterhin hinter der bereits auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar skizzierten chinesischen Friedensinitiative stehe. Aber diese Initiative scheint nur ein Feigenblatt zu sein, bisher sind keine diplomatischen Anstrengungen der Chinesen erkennbar.
Putin erpresst Welt mit Hunger
Im Gegenteil: China macht seinen Einfluss nicht geltend. Peking möchte laut übereinstimmender Einschätzungen von China-Experten nicht, dass Putin den Krieg verliert, und setzt dem russischen Machthaber keine Grenzen, wenn dieser die Welt mit Hunger bedroht und erpresst.
Putin hatte am Montag das Getreideabkommen mit der Ukraine nicht verlängert. Der Kreml begründete den Ausstieg aus der auch für andere Länder wichtigen Vereinbarung damit, dass eigene Forderungen nach einer Ausfuhrerlaubnis für russisches Getreide nicht erfüllt würden.
Doch viel wahrscheinlicher ist eine andere Lesart: Der russische Präsident benutzt Weizen als Waffe und hat erneut die Welt in Geiselhaft genommen. Die Folgen sind noch unabsehbar, viele Länder weltweit sind vom Getreide aus der Ukraine abhängig.
Aber in New York waren sich westliche Diplomaten einig, dass das letzte Wort darüber noch nicht gesprochen sei. Schließlich habe Putin nicht mehr so viele Möglichkeiten, den Westen zu erpressen. Es sei unwahrscheinlich, dass er eines dieser Druckmittel freiwillig aus der Hand gebe.
Doch bei dem Treffen in New York scheint es noch große Unklarheit darüber zu geben, wer im Getreidestreit zwischen Russland und der Ukraine vermitteln soll. Auch Baerbock wich einer diesbezüglichen Frage von t-online aus.
"Schreckliche Unmenschlichkeit"
Ursprünglich galten die Türkei und die Vereinten Nationen als Vermittler des Abkommens. Doch der türkische Präsident hatte zuletzt seinen ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj in Ankara empfangen, ihm die Nato-Tauglichkeit attestiert und gegen den Willen Putins Generäle des ukrainischen Asow-Regiments freigelassen. Vermutlich war das Erdoğans Racheaktion dafür, dass Putin das Getreideabkommen hat auslaufen lassen. Denn für die türkische Regierung hing an dem Deal viel Prestige.
"Putin hat angekündigt, das Abkommen nicht verlängern zu wollen. Damit hat er Erdoğan im Regen stehen lassen", sagte der Militär- und Russland-Experte Gustav Gressel im Gespräch mit t-online. "Zumindest war klar, dass der türkische Präsident dies nicht auf die leichte Schulter nimmt. Putin musste mit Erdoğans Vergeltung rechnen, weil beide Herren sehr ähnlich gestrickt sind."
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Am Ende könnte es allerdings so kommen, dass Putin doch noch einlenkt, um dann zu einem späteren Zeitpunkt erneut eine Eskalation herbeizuführen. Vielleicht auch deshalb beendete Baerbock ihren Auftritt im UN-Sicherheitsrat mit einem eindringlichen Appell an Putin: "Hören Sie auf, den Hunger zu benutzen. Hören Sie auf, Kinder zu entführen. Stoppen Sie Ihren illegalen Krieg gegen die Ukraine – im Namen der Menschheit."
Der Weg bis dahin scheint noch steinig zu sein, auch das hatte die Reise der Ministerin nach New York gezeigt. "Menschlichkeit ist das, was uns verbindet", sagte Baerbock in New York. Was sie meinte: Die internationale Gemeinschaft könnte wahrscheinlich deutlich stärkeren Druck auf Putin ausüben, aber dafür bräuchte man vor allem eines: mehr Geschlossenheit.
- Begleitung von Außenministerin Baerbock nach New York
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa