Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Wagner-Chef in Lebensgefahr "Es sieht danach aus, dass Putin ihn langsam zerdrückt"
Jewgeni Prigoschin hat gegen Putin rebelliert, nun sitzt er im Exil in Belarus. Wird der Wagner-Chef überleben – und plant er bereits den nächsten Putsch?
Als Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin vergangenen Samstag den "Marsch der Gerechtigkeit" auf Moskau befahl, war unklar, ob der russische Staat in seiner gegenwärtigen Form überleben wird – oder in einem blutigen Bürgerkrieg versinkt.
Doch der Söldnerchef, dessen Truppen stundenlang ungehindert durch russisches Gebiet marschierten, brach seinen Putschversuch 200 Kilometer vor der Hauptstadt plötzlich ab. Angeblich, um ein "Blutvergießen" zu verhindern (nachdem seine Kämpfer bereits mehrere russische Soldaten getötet hatten).
Eine Schlüsselrolle spielte der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko, der, so die offizielle Erzählung, auf Putins Wunsch hin Prigoschin von seinem Putschversuch abbrachte und ihm Exil in Belarus anbot. Der Kreml versüßte den seltsamen Deal mit einer Amnestie für alle Wagner-Kämpfer.
Im t-online-Interview erklärt die Russland-Expertin Sarah Pagung, ob sich Putin von dem Schlag erholen kann, was der Wagner-Chef in Belarus vorhat – und was mit dessen Vermögen in Russland passieren könnte.
t-online: Frau Pagung, Wladimir Putin hat einmal gesagt, der einzige Fehler, den er nicht verzeihen könne, sei Verrat. Beginnt jetzt der Überlebenskampf für den russischen Rebellenführer Jewgeni Prigoschin?
Sarah Pagung: Ich denke nicht, dass Putin Prigoschin ein sorgenfreies Rentnerleben in Belarus gönnen wird. Prigoschin hat Putins Macht bedroht, der Kremlchef steht geschwächt da. Putin muss den Kontrollverlust irgendwie kompensieren, um weitere Rivalen abzuschrecken. Das ist durch weitere Repression möglich, oder auch, indem er ein Exempel an Prigoschin statuiert.
Dem belarussischen Machthaber Lukaschenko zufolge hat Putin Prigoschin bereits töten wollen, als dessen Rebellenarmee am Samstag 200 Kilometer vor Moskau stand. Lukaschenko behauptet, er habe Putin davon abgeraten.
Uns fehlen wesentliche Informationen über die Abmachung, die Prigoschin mit Lukaschenko getroffen hat. Es gab vermutlich Sicherheitsgarantien für Prigoschin, aber ob sich der Kreml daran gebunden fühlt, sobald er seine Macht wieder konsolidiert hat, ist fraglich.
In seiner ersten Stellungnahme bezeichnete Russlands Präsident die Wagner-Aufständischen als Verräter. Erfordert es die innere Logik des Putinschen Machtapparats, dass der Drahtzieher des Verrats physisch beseitigt werden muss, damit der Staat die Kontrolle zurückbekommt?
Ob Putin ihn töten lassen muss, weiß ich nicht. Vorstellbar sind auch strafrechtliche Ermittlungen oder Lagerhaft.
War Prigoschins Aufstand eine Meuterei gegen die russische Militärführung oder wollte der Wagner-Chef Wladimir Putin stürzen?
Nach allem, was wir wissen, war es ein Aufstand, der sich dynamisch zu einem Putschversuch entwickelte. Zunächst war es eine Meuterei gegen Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow, also ein Konkurrenzkampf innerhalb der russischen Elite. Als Putin in seiner ersten Stellungnahme am Samstag de facto zur Liquidierung von Prigoschin und seiner Kämpfer aufrief, befahl Prigoschin den Marsch auf Moskau. Vermutlich sah er darin die einzige Chance, seine Haut zu retten. Die Frage ist, für wie lange.
Prigoschin ist am Dienstagmorgen in Belarus gelandet, offenbar nahm er seinen Privatjet vom Typ Embraer Legacy 600. Ist er beim Nachbardiktator und Putin-Freund Alexander Lukaschenko sicher?
Wir wissen es nicht, aber man kann davon ausgehen, dass er in permanenter Lebensgefahr schwebt. Wir dürfen nicht vergessen, dass Belarus kein unabhängiger Staat ist. Wenn der Kreml es darauf anlegt, hat er Zugriff auf Prigoschin. Das muss nicht morgen oder nächste Woche passieren. Putin lässt seine Feinde manchmal erst Jahre später beseitigen.
Russland-Expertin Sarah Pagung
Sarah Pagung ist seit Februar 2019 Associate Fellow bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Inhaltlich arbeitet sie vor allem zu russischer Außen- und Sicherheitspolitik sowie zu Informationspolitik.
Für wen ist das Sicherheitsrisiko größer: für Prigoschin oder Lukaschenko, der einen Putschisten mit seiner kampferfahrenen Privatarmee ins Land lässt?
Das hängt davon ab, wie viele der Wagner-Kämpfer Prigoschin am Ende wirklich nach Belarus folgen. Das ist aktuell vollkommen unklar. Ich sehe aktuell aber Prigoschin geschwächt. Er ist gescheitert mit seinem Aufstand, während Lukaschenko sich als Vermittler präsentieren konnte. Dieser ist zumindest erst einmal gestärkt.
Belarussische Medien berichten, dass bereits Feldlager für Wagner-Söldner in Belarus errichtet werden. Eines soll 200 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt stehen und 8.000 Kämpfer beherbergen. Züchtet sich Lukaschenko damit nicht eine riesige Bedrohung heran?
Ich wäre sehr vorsichtig bei solchen Berichten. Wir lesen auch darüber, dass Wagner-Kommandeure in Syrien von Kräften des russischen Verteidigungsministeriums festgenommen worden sein sollen. Bisher sind das nur Gerüchte.
Lukaschenko hat selbst bestätigt, dass er Wagner-Söldnern ein verlassenes Militärgelände zur Verfügung stellt. Belarussische Staatsbürger dürften zudem bei der Truppe einsteigen.
Das mag sein, aber ob es so kommt und wie viele Kämpfer das am Ende werden, bleibt unklar. Der Kreml hat die Söldner vor die Wahl gestellt: entweder sich der regulären russischen Armee anzuschließen, zu ihren Familien zurückzukehren oder nach Belarus ins Exil zu gehen. Ein vergiftetes Angebot, denn im Grunde scheint Putin nur noch ein Ziel zu haben: Wagner zu zerschlagen.
Aber zeigt er nicht Schwäche, wenn er die Aufständischen straffrei gehen lässt?
25.000 Söldner strafrechtlich zu belangen, ist praktisch kaum möglich. Der russische Staat hat sich vermutlich aus Effizienzgründen dafür entschieden, Wagner schrittweise aufzulösen: Indem man den Kämpfern unterschiedliche Optionen aufzeigt und damit innere Konflikte in der Truppe schürt.
Also aus einer verschworenen Einheit versprengte Grüppchen machen, die einfacher zu kontrollieren sind?
Richtig. Und am Ende kann sich der russische Staat immer noch überlegen, ob er an einzelnen Wortführern ein Exempel statuiert und sie strafrechtlich belangt.
Welche Optionen hat Prigoschin jetzt in Belarus? Wird er weiter internationale Einsätze, etwa in Afrika, ausführen – nun aber für Lukaschenko? Kommt es zu Sabotageangriffen durch Wagner an der ukrainischen Nordgrenze? Oder plant Prigoschin bereits den nächsten Aufstand?
Ich glaube nicht, dass Prigoschin gerade Zukunftspläne schmiedet. Die größte Frage ist, ob er die Kontrolle über Wagner behält, ob er überhaupt noch irgendetwas machen kann. Im Moment sieht es eher danach aus, dass Putin ihn langsam zerdrückt.
Putin sagte in einer TV-Ansprache, dass Wagner von Mai 2022 bis Mai 2023 umgerechnet rund eine Milliarde Euro vom russischen Staat erhalten habe. War das eine versteckte Drohung mit strafrechtlichen Ermittlungen, etwa wegen Korruption oder Steuervermeidung? Das sind ja häufiger Vorwände, um Konkurrenten loszuwerden.
Vielleicht. Ich denke, Putin wollte damit vor allem die russische Öffentlichkeit daran erinnern, wer Koch und wer Kellner ist: Dass Wagner zu 100 Prozent abhängig vom russischen Staat war und Prigoschin kein autonomer Machtfaktor ist. Ob die Leute das nach dem Aufstand glauben, ist eine andere Sache.
Was ist mit Prigoschins Vermögen in Russland? Er soll eine Jacht, ein teures Anwesen am Schwarzen Meer und viele Luxusautos besitzen. Was wird jetzt damit?
Das kommt darauf an, wie der Kreml mit Prigoschin weiterverfahren wird. Aber klar ist, dass Eigentum in Russland nicht gesichert ist, vor allem nicht vor dem Zugriff des Putinschen Staates. Seine Villa und seine Jacht könnten für immer weg sein.
- Interview mit Sarah Pagung