Angriffe gegen Russland Das dicke Ende kommt noch
Oleksandr Syrskyj hat Kiew verteidigt und die Region Charkiw befreit. Jetzt führt er die nächste Offensive gegen die Russen an – und mahnt zu Geduld.
Im Kampf gegen die russische Armee warnt einer der wichtigsten ukrainischen Befehlshaber vor übereilten Angriffen. "Alle wollen einen großen Sieg erringen und das am besten sofort", sagte General Oleksandr Syrskyj der britischen Zeitung "Guardian". "Das wollen wir auch, aber wir müssen uns darauf einstellen, dass dieser Prozess Zeit brauchen wird."
Beide Seiten hätten eine gewaltige Streitmacht aufgefahren, mit viel Kriegsgerät und vielen befestigten Hindernissen, so der 57-Jährige, der die ukrainische Gegenoffensive leitet: "Was ich sagen kann, ist, dass unsere Hauptkampfgruppe bislang noch gar nicht an den Kämpfen teilgenommen hat. Wir suchen gerade mit Probeangriffen nach Schwachstellen in der Verteidigung des Feindes. Die Offensive steht noch ganz am Anfang."
"Russen versuchen die Initiative zu gewinnen"
Erschwert würden die Bemühungen der Ukrainer durch Gegenoffensiven der Russen im Osten und Nordosten des Landes. Syrskyj berichtet etwa von schweren Kämpfen bei Bachmut, wo die Ukrainer in den vergangenen Wochen Geländegewinne erzielen konnten. "Die Russen versuchen die Initiative zu gewinnen und verstärken gleichzeitig die Frontabschnitte, an denen ein Durchbruch unsererseits für sie besonders gefährlich wäre", so Syrskyj. "Wir dürfen den Feind nicht unterschätzen. Die Situation ist sehr schwierig."
Die Ukraine hat für die Gegenoffensive nach Schätzungen von Militärexperten zwölf neue Brigaden aufgestellt, von denen neun mit westlichem Kriegsgerät ausgestattet sein sollen. Eine Brigade umfasst in der Regel 1.500 bis 5.000 Soldaten. Bislang sollen erst drei der zwölf neuen ukrainischen Brigaden an den Kämpfen beteiligt sein. Ein durchschlagender Erfolg der ukrainischen Gegenoffensive ist bislang ausgeblieben. Militärexperten warnen aber vor überzogenen Erwartungen an die ukrainische Armee.
Syrskyj gilt als Meisterstratege
Syrskyj zeigte sich im "Guardian" zuversichtlich, dass seine Soldaten angesichts ihrer Kampfmoral, ihrer Ausbildung und ihrer Vorbereitung einen Durchbruch gegen die russische Armee erzielen werden: "Das ist ein fortlaufender Prozess. Jede Seite zieht aus dem bisherigen Kriegsverlauf ihre Schlüsse und niemand will zweimal auf dieselbe Weise aufs Kreuz gelegt werden", sagte Syrskyj. Damit bezog sich der Generaloberst offenbar auf die Befreiung der Region Charkiw unter seinem Kommando voriges Jahr.
Damals hatte die ukrainische Führung zunächst wochenlang eine bevorstehende Offensive im Süden des Landes angetäuscht und damit viele russische Truppen aus der Region im Nordosten des Landes weggelockt. Dort schlug die ukrainische Armee dann zu, überrumpelte die russischen Truppen und befreite die Region innerhalb weniger Wochen. Auch die erfolgreiche Verteidigung Kiews wird Syrskyj zugeschrieben, der als einer der fähigsten Köpfe in der ukrainischen Armee gilt.
Das ist wohl auch Putins Truppen nicht entgangen. Er sei stolz darauf, dass er auf einer russischen Tötungsliste stehe, sagte der Militär – das lenke die Russen von seinen Soldaten ab. Das Interview mit dem "Guardian" fand daher auch an einem unbekannten Ort statt. Der General gab sich auch angesichts einer möglichen Übermacht der schätzungsweise 400.000 russischen Soldaten im Land siegesgewiss: "Ich habe noch nie gegen einen Feind in Minderzahl gekämpft. Zahlenmäßig waren sie uns immer überlegen."
- theguardian.com: "Ukraine commander says main offensive reserve yet to be sent into battle" (englisch; Stand: 23. Juni 2023)