Atomkraftwerk Saporischschja Chef der Atomenergiebehörde: "Ich bin extrem besorgt"
Die Lage am besetzten Atomkraftwerk Saporischschja spitzt sich zu. Russland hat offenbar Bewohner evakuiert und Sandsäcke auf den Dächern einiger Reaktoren platziert.
Wird es durch die ukrainische Gegenoffensive verstärkt zu Kämpfen rund um das Atomkraftwerk Saporischschja kommen? Es mehren sich die Hinweise darauf, dass sich russische Truppen zumindest auf dieses Szenario vorbereiten. Sie halten das ukrainische Atomkraftwerk, welches das größte in Europa ist, seit März 2022 besetzt.
Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) zeigte sich jüngst alarmiert: Die Situation werde immer unberechenbarer, und das Gefahrenrisiko in dem russisch besetzten AKW steige, sagte IAEA-Chef Rafael Grossi am Samstagabend. "Ich bin extrem besorgt über die sehr realen Sicherheitsrisiken", warnte er in einem Lagebericht. "Wir müssen jetzt handeln, um einen drohenden schweren Atomunfall zu verhindern."
Das ukrainische Kernkraftwerk befindet sich in der Nähe der Front. Weil in näherer Zukunft mit einer ukrainischen Gegenoffensive gerechnet wird, spitzt sich die Lage nun zu. Bereits jetzt haben die Anschläge auf strategisch wichtige Objekte im von Russland kontrollierten Hinterland der Front stark zugenommen.
Als eine Möglichkeit einer ukrainischen Offensive gilt dabei ein militärischer Vorstoß im Gebiet Saporischschja – in welchem sich das gleichnamige Atomkraftwerk befindet – in der Zentralukraine in Richtung der Küste des Asowschen Meeres. Auch ein Vorstoß bei der Großstadt Cherson im Süden und im Norden sei laut Analysten möglich, sagte der Militärexperte Niklas Mahsur der Deutschen Presse-Agentur.
Dabei sei von wechselnden offensiven Schwerpunkten auszugehen, ergänzt durch kleinere Offensiven, um die Russen an mehreren Punkten in Gefechte zu ziehen, so der Forscher vom Center for Security Studies der Universität ETH in Zürich.
Menschen aus der Region evakuiert
Am Freitag nun kündigte die moskautreue Verwaltung der Region Saporischschja Evakuierungen aus den Gebieten um das Kernkraftwerk an – was die Befürchtungen unter anderem der Internationalen Atomenergiebehörde verstärkte.
1.679 Menschen, darunter 660 Kinder, seien aus den umliegenden Gebieten des AKWs zu einem temporären Unterbringungszentrum in Berdjansk gebracht worden, teilte der von Moskau eingesetzte Gouverneur der Region, Jewgeni Balizki, auf seinem Telegramm-Kanal mit. Berdjansk ist eine südostukrainische Hafenstadt am Asowschen Meer, die seit den ersten Tagen des russischen Einmarsches in die Ukraine im Februar 2022 von Russland besetzt ist.
Unter den geräumten Ortschaften ist auch die Stadt Enerhodar, in der das Atomkraftwerk liegt. Dort lebt ein Großteil des Personals, welches in der Anlage arbeitet. Laut IAEA-Chef Grossi bleiben die Mitarbeiter zwar vor Ort, doch die Situation werde dennoch "zunehmend angespannt, nervenaufreibend und herausfordernd" für sie und ihre Familien. Dauerstress könne zu Fehlern und Unfällen bei der Arbeit im Atomkraftwerk führen, warnt die Behörde.
Stellungen mit Sandsäcken auf Dächern der Reaktoren errichtet
Auch dass russische Truppen auf den Dächern der Reaktoren offenbar teilweise Verteidigungsstellen mit Sandsäcken geschaffen haben, deute darauf hin, dass sich die Besatzungstruppen auf Kämpfe rund um das AKW vorbereiten – so zumindest die Einschätzung britischer Geheimdienstexperten. Satellitenbilder zeigten, dass bis Ende März solche Verteidigungsstellen auf einigen der insgesamt sechs Reaktoren errichtet worden seien.
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"Russland hat diese Stellungen wahrscheinlich errichtet, weil es zunehmend besorgt ist über die Aussicht auf eine große ukrainische Offensive", heißt es in einem täglichen Geheimdienst-Update des Verteidigungsministeriums in London Ende April. Seit der russischen Besetzung im März 2022 sei dies der erste Hinweis darauf, dass der Aggressor die eigentlichen Reaktorgebäude in die taktische Verteidigungsplanung einbezieht.
Der Schritt erhöhe das Risiko von Schäden an dem Sicherheitssystem des Atomkraftwerks, sollten dort Kämpfe stattfinden, so die Einschätzung aus London. Katastrophale Schäden an den Reaktoren seien aber in den meisten plausiblen Szenarien mit Infanteriewaffen unwahrscheinlich, da die Gebäudestrukturen sehr gut bewehrt seien.
Auch habe das russische Militär Ausrüstung, Waffen und Sprengstoff im Turbinenraum von Block 4 deponiert, so die zuständige ukrainische Behörde SNRIU. Bereits zuvor, im Juli 2022 und im August 2022, habe es solche Verlegungen von militärischem Material in unterschiedlichen Blöcken gegeben. Die jüngsten Handlungen seien "ein weiterer Schritt, der der nuklearen Sicherheit und der Strahlensicherheit der kerntechnischen Anlagen am AKW Saporischschja erheblichen Schaden" zufüge, so die Behörde.
Grossi fordert Vereinbarung zum Schutz vor Angriffen
IAEA-Chef Grossi forderte erneut eine Vereinbarung zwischen der Ukraine und Russland, um das AKW vor Angriffen zu schützen. Ursprünglich sei Moskau dem Plan positiv gegenübergestanden, während Kiew skeptisch gewesen sei, weil darin kein russischer Abzug aus dem Kraftwerk vorgesehen war, wie die Deutsche Presse-Agentur aus europäischen diplomatischen Kreisen erfuhr. Seit Kiew zuletzt eine positivere Haltung einnehme, aber gleichzeitig den Abzug der Russen fordere, zeige sich Russland nicht mehr so zustimmend, hieß es.
Angesichts der besetzten Atomkraftanlage sieht der Osteuropa-Experte Serhii Plokhy den Krieg in der Ukraine zu einem gewissen Punkt schon seit Tag eins als nuklearen Krieg. "In Zukunft brauchen wir deshalb im Rahmen einer neuen internationalen Ordnung ein Abkommen, das die kriegerische Instrumentalisierung von Nuklearstandorten genauso als Verbrechen wertet wie den Einsatz von Atomwaffen", sagte Plokhy im Interview mit dem "Tagesspiegel".
Was hieße das für deutsches Staatsgebiet?
Inwieweit Deutschland von Angriffen auf das Atomkraftwerk Saporischschja betroffen wäre, ist unklar. Solche Prognosen seien mit sehr hohen Unsicherheiten behaftet, sagte ein Sprecher des Bundesumweltministeriums den Funke-Zeitungen (Montagsausgaben) – auch "da Atomkraftwerke in der Geschichte bisher noch nie angegriffen wurden".
Aufgrund der Entfernung zur Ukraine rechnet das Bundesumweltministerium jedoch nicht damit, dass im Fall eines radioaktiven Niederschlags in Deutschland Maßnahmen des Katastrophenschutzes erforderlich würden – wie beispielsweise die Einnahme von hochdosiertem Jod, um die Schilddrüse vor der Anreicherung von radioaktivem Jod zu schützen.
"Im schlimmsten Fall, also nur bei einem erheblichen Austritt von Radioaktivität und einer Wetterlage, die Luftmassen von der Ukraine nach Deutschland verfrachtet, könnten in Deutschland für die Landwirtschaft festgelegte Radioaktivitätshöchstwerte überschritten werden", sagte der Sprecher weiter. Dann würde eine Kontrolle von Futter- und Nahrungsmitteln erforderlich werden.
Derzeit keine erhöhten Strahlungswerte
Aktuell ginge von dem ukrainischen Atomkraftwerk keine gefährliche Strahlenbelastung für Deutschland aus. "Es gibt derzeit keinerlei Hinweise auf erhöhte Strahlungswerte, weder in der Ukraine noch in Deutschland", so der Sprecher.
Das Notfallmanagementsystem des Bundes und der Länder für radiologische Notfälle sei aber zu jedem Zeitpunkt effektiv und einsatzbereit, versicherte der Sprecher. Sollte das Ministerium Hinweise haben, "dass sich ein radiologischer Notfall mit erheblichen Auswirkungen in der Ukraine ereignet, würde das radiologische Lagezentrum des Bundes die Lage bewerten, die Öffentlichkeit informieren und, soweit erforderlich, Verhaltensempfehlungen geben".
- iaea.org: "Update 156 – IAEA Director General Statement on Situation in Ukraine" (englisch)
- snriu.gov.ua: "Російські окупанти розмістили в приміщенні турбінного відділення енергоблоку №4 ЗАЕС військову техніку та вибухівку"
- pravda.com.ua: "Russians are storing explosives at Zaporizhzhia nuclear plant – State Nuclear Regulatory Inspectorate" (englisch)
- tagesspiegel.de: "Harvard-Historiker Serhii Plokhy: 'Der Krieg in der Ukraine ist schon seit Tag eins ein nuklearer'" (deutsch)
- twitter.com: Profil von @DefenceHQ (englisch)
- Mit Material der Nachrichtenagenturen AFP, dpa und Reuters