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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Minen in der Ukraine Die Gefahr lauert überall
Durch den Krieg werden immer größere Flächen der Ukraine mit Minen verseucht. Die Aufräumarbeiten könnten Jahrzehnte dauern.
Oleksandr Kryvtsov wollte nicht mehr warten: Pünktlich zum Frühling wollte der Landwirt aus dem ostukrainischen Hrakove seine Felder einsäen, doch dort bereiten ihm Landminen Probleme. Der offizielle Räumdienst war zu beschäftigt.
Deshalb hat Kryvstov aus einem Traktor sein eigenes Minensuchgerät entwickelt, das per Fernsteuerung die Felder abfährt. Geschützt wird der Traktor mit der Panzerung von zerstörten russischen Militärfahrzeugen.
Hrakove stand im vergangenen Jahr sechs Monate unter russischer Kontrolle. Im Herbst konnte die ukrainische Armee den Ort befreien. Vor ihrem Rückzug ließen die russischen Soldaten zahlreiche Antipersonenminen zurück, im Volksmund besser bekannt als Tretminen. Von Hand würde die Säuberung der Felder Jahre dauern, sagt der Leiter der Räumeinheit Serhii Dudak: "Wir haben keine Zeit, die Felder zu entminen. Der Arbeitsaufwand ist enorm."
Hunderttausende Kilometer betroffen
Der Krieg in der Ukraine dauert inzwischen mehr als ein Jahr an. Irgendwann wird er enden, so viel ist klar. Doch genauso sicher ist: Die zahllosen Minen im Boden werden noch weit über diesen Zeitpunkt hinaus dort bleiben.
Schon im Dezember sagte der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal, bei seinem Land handle es sich um "das größte Minenfeld der Welt". Dem "Landmine Monitor" 2022 zufolge ist eine Fläche von geschätzt bis zu 160.000 Quadratkilometern in der Ukraine potenziell durch Minen verseucht, ein Großteil davon in den russisch besetzten Gebieten. Schmyhal geht sogar von rund 250.000 Quadratkilometern aus – das entspräche einer Fläche dreimal so groß wie Österreich.
Russland dürfte die geächtete Waffe wohl deutlich häufiger einsetzen. Doch auch die Ukraine hat offenbar Antipersonenminen in ihrem Repertoire – obwohl sich das Land vertraglich einem entsprechenden Verbot verpflichtet hat.
Was ist über den Mineneinsatz alles bekannt? Und wie lässt sich dieses Problem lösen?
Einsatz in Butscha?
Der "Landmine Monitor" geht davon aus, dass die russische Seite seit Beginn der Invasion sieben verschiedene Typen von Antipersonenminen eingesetzt hat. Der Einsatz der Waffen, die nicht nur für Soldaten, sondern auch für Zivilisten eine große Bedrohung darstellen, ist von einem Großteil der Länder auf der Welt geächtet.
164 Staaten haben seit 1997 die sogenannte Ottawa-Konvention unterschrieben: Die Mitglieder verpflichten sich, keine Landminen einzusetzen, herzustellen, zu lagern oder weiterzugeben. Auch die ukrainische Regierung hat das Abkommen unterzeichnet, schon 1999. Russland dagegen hat ihm bis heute nicht zugestimmt, genauso wenig die USA, China, Indien oder der Iran.
Wie viele Landminen im Boden der Ukraine stecken, weiß keiner. Allerdings gibt es Orte, die stärker belastet sind als andere. Zum Schutz der Bevölkerung hat die ukrainische Regierung eine eigene App aufgesetzt, die potenzielle verminte Orte aufführt. Besonders viele Meldungen gibt es etwa um die ostukrainischen Städte Charkiw und Kramatorsk.
Allerdings sind auch westlich der Hauptstadt Kiew viele Gefahrenherde gelistet. Laut "Human Rights Watch" wurden auch in dem Ort Butscha, der für mutmaßliche russische Kriegsverbrechen bekannt ist, verschiedene Sprengfallen und Antipersonenminen gefunden.
Effektive Räumung erst nach Kriegsende
"Überall dort, wo gekämpft wird, muss man damit rechnen", sagte Horst Unterrrieder im vergangenen Oktober dem österreichischen "Standard". Der österreichische Soldat hatte selbst fünf Jahre lang Bosnien und Herzegowina von Minen befreit. Räumarbeiten gibt es schon jetzt an vielen Stellen in der Ukraine. Allerdings werde das Risiko für die Bevölkerung dadurch kaum reduziert.
"Alles, was an Minen und anderen Kampfmitteln in den Kampfgebieten geräumt wird, dient dem eigenen operativen, taktischen Vorhaben, wie zum Beispiel dem Fördern der eigenen Bewegung oder dem Hemmen der Bewegung des Gegners", sagt Unterrieder. Soll heißen: Die Räumungen für militärische Zwecke haben Vorrang, die Sicherheit der Zivilisten wird dadurch kaum gestärkt.
Offiziell hat die ukrainische Seite den Einsatz von Antipersonenminen bisher nicht eingeräumt. Allerdings kann er auch nicht ausgeschlossen werden: Anfang des Jahres berichtete "Human Rights Watch", dass ukrainische Soldaten im Kampf um die Stadt Isjum mutmaßlich Tausende Antipersonenminen mit Raketen abgeschossen hatten.
Grenzgebiet vermint
"Die ukrainischen Streitkräfte haben anscheinend in großem Umfang Landminen in der Gegend von Isjum verstreut, was zu Opfern unter der Zivilbevölkerung führt und ein permanentes Risiko für die Menschen darstellt", sagte Steve Goose, Direktor der Abteilung Waffen der Nichtregierungsorganisation. Das ukrainische Außenministerium hatte in Folge der Berichterstattung eine Untersuchung angekündigt.
An Vorräten mangelt es der Ukraine nicht: Laut "Landmine Monitor" soll das Land noch immer rund 3,3 Millionen Minen besitzen, die laut Ottawa-Konvention eigentlich schon vernichtet sein sollten. Viele davon könnten im Norden des Landes vergraben sein: Zum Schutz vor einem möglichen Kriegseintritt von Belarus hat die Ukraine seine dortigen Grenzanlagen verstärkt. Laut mehreren Medienberichten sollen auch Minen verstreut worden sein. Um welche Typen es sich konkret handelt, ist allerdings unklar.
Gleichzeitig erhält das Land auch weitere Minen aus den USA: Erst im Januar hatte das US-Verteidigungsministerium weitere Waffenlieferungen in Höhe von mehr als drei Milliarden Dollar angekündigt, darunter auch die sogenannte Claymore.
Räumung dauert wohl Jahrzehnte
Die Mine wird ferngezündet oder durch einen Stolperdraht ausgelöst. Die Unterscheidung ist deshalb wichtig, da der Stolperdraht den Anti-Minen-Vertrag verletzt, die Fernzündung dagegen nicht. Erlaubt ist generell auch der Einsatz gegen Fahrzeuge: Deutschland hat nach offiziellen Zahlen bisher 14.900 Panzerabwehrminen geliefert. Diese werden im Gegensatz zu Antipersonenminen erst bei deutlich mehr Gewicht ausgelöst. Im vergangenen April sorgte etwa ein Video für Aufmerksamkeit im Netz: Dort hatten ukrainische Soldaten mit ihren Füßen mehrere Minen von einer Straße geschoben.
Bei Tretminen hilft diese Praxis allerdings nicht. Für sie braucht es Räumpanzer und spezielles Gerät, das über den selbstfahrenden Traktor von Bauer Oleksandr Kryvtsov hinausgeht.
Solche Räumungsfahrzeuge hat die Ukraine inzwischen zwar auch bekommen, unter anderem aus Deutschland. Für den Moment aber dürften sie kaum einen größeren Effekt erzielen. Denn die Spezialpanzer helfen in erster Linie dem Militär, in eng umgrenzten Gebieten voranzukommen. Für großflächige Räumungen sind sie weniger brauchbar.
Und klar ist schon jetzt, dass das Entschärfen der Minen immens teuer wird: Ministerpräsident Denys Schmyhal kalkulierte im vergangenen Monat fast 34 Milliarden Euro ein. Was das bedeutet, erklärte kürzlich die Chefin der Europäischen Bank für den Wiederaufbau: Der Großteil der Wiederaufbauhilfen werde wohl nicht in neue Häuser, Brücken oder Flughäfen fließen: "Die traurige Wahrheit ist, dass ein wirklich sehr großer Teil des Geldes für die Räumung und Entschärfung von Landminen nötig sein wird", sagte Odile Renaud-Bassaud, der "Welt am Sonntag" im März.
Viel der gefährlichen Arbeit werden die Ukrainer eines Tages selbst übernehmen müssen. Mitglieder des Katastrophenschutzes bereiten sich schon jetzt darauf vor. Im Januar waren einige von ihnen für ein Spezialtraining in Kambodscha, wo seit Ende der 1970er-Jahre rund 64.000 Menschen durch die Waffen im Boden starben.
- Mit Material der Nachrichtenagentur Reuters
- mine.dsns.gov.ua: "Інтерактивна мапа територій, які потенційно можуть бути забруднені вибухонебезпечними предметами" (ukrainisch)
- the-monitor.org: "Landmine Monitor 2022" (englisch)
- hrw.org: "Ukraine: Russian Forces’ Trail of Death in Bucha" (englisch)
- hrw.org: "Ukraine: Verbotene Landminen schaden Zivilist*innen"
- derstandard.at: "Minenexperte: "Eine Mine ist leider eine sehr effektive Waffe"
- defense.gov: "More Than $3 Billion in Additional Security Assistance for Ukraine" (englisch)
- kyivindependent.com: "PM Shmyhal: Ukraine needs $37 billion for humanitarian demining" (englisch)
- kyivindependent.com: "Shmyhal: "World's largest minefield" created in Ukraine as result of Russian invasion" (englisch)
- geneva-s3.unoda.org: "Convention on the prohibition of the use, stockpiling, production and transfer of anti-personnel mines and on their destruction" (englisch)
- npr.org: "On the border with Belarus, Ukrainian troops prep for a long war — and the front line" (englisch)
- kyivpost.com: "Walls, Mines and Motivated Men: Ukraine’s Border With Belarus" (englisch)
- welt.de: "Russland wird für den Wiederaufbau in der Ukraine zahlen müssen" (kostenpflichtig)