Laut US-Experten Putin beging schweren Fehler im Ukraine-Krieg
Russlands Krieg gegen die Ukraine lief bei Weitem nicht so, wie vom Kreml erhofft. Laut einer Analyse der Denkfabrik ISW liegt das vor allem am Führungsstil Wladimir Putins.
Die russische Invasion gegen die Ukraine lief von Beginn an nicht nach Plan: Eigentlich sollte die Operation nur wenige Tage dauern, doch der Großangriff auf Kiew im vergangenen Frühjahr schlug fehl, vor allem, weil Kremlchef Wladimir Putin offenbar die ukrainische Gegenwehr unterschätzt hatte.
Laut der US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) beging Russlands Präsident noch einen weiteren schweren Fehler: Für die entscheidende Position des Oberbefehlshabers für den Ukraine-Krieg hat Putin bis heute keine fähige Person eingesetzt. Stattdessen wechselte er den Oberbefehlshaber für die Operationen in der Ukraine ständig aus, zum Start der Invasion hatte er überhaupt keinen ernannt.
Mit dramatischen Auswirkungen: Putins Weigerung, einen Oberbefehlshaber zu ernennen, habe zu einer Fraktionsbildung im russischen Militär, "desorganisierten Kommandostrukturen und unerfüllbaren Erwartungen" geführt, schreibt das ISW in einer Analyse. Der Kremlchef habe sich als "Mastermind" einer erfolgreichen Ukraine-Invasion inszenieren und verhindern wollen, dass die russische Öffentlichkeit den erwarteten Sieg nicht ihm, sondern einem möglicherweise populären Kommandeur zuschreiben würde.
Putin, selbst ohne nennenswerte militärische Erfahrung, habe einen inneren Rivalen gefürchtet, "der ihm den Rang ablaufen könnte", so das ISW – und zieht einen Vergleich zum Machtkampf zwischen Josef Stalin und dem Marschall der Sowjetunion, Georgi Schukow, während des Zweiten Weltkriegs: Stalin verfügte nur über begrenzte Kriegserfahrungen und war Berichten zufolge eifersüchtig auf Schukows militärische Erfolge und seinen Ruhm.
Am Anfang ohne Oberbefehlshaber
Das Problem ziehe sich seit Februar 2022 durch den gesamten Kriegsverlauf, so das ISW in seiner Analyse. Zu Beginn der Ukraine-Invasion blieb die Position des Ukraine-Oberkommandeurs vakant: Die russische Führung glaubte zunächst, das Nachbarland in wenigen Tagen zu überrennen; einen Oberbefehlshaber, der alle militärischen Operationen in der Ukraine überblickt, hielt man offenbar nicht für nötig, schreibt das ISW.
Erst im April, als das russische Militär die Schlacht um Kiew verlor und seine Kräfte in den Donbass verlegte, hatte Putin erstmals einen Oberbefehlshaber für alle militärischen Operationen in der Ukraine ernannt: Armeegeneral Wladimirowitsch Dwornikow, der zugleich den russischen südlichen Militärbezirk kommandierte.
Ständiger Wechsel an der Spitze
Doch Dwornikow stand nicht lange in Putins Gunst: Als er es nicht schaffte, bis zum wichtigen "Tag des Sieges" am 9. Mai den gesamten Donbass zu erobern, setzte Putin einen Neuen an seine Stelle: Gennadi Schidko, der zugleich zum Kommandeur des russischen östlichen Militärbezirks befördert wurde.
Laut ISW war die Tatsache, dass die Ukraine-Befehlshaber zugleich russische Militärbezirke kommandierten, gewollt: Die Verantwortung für eine weitere, weniger gehobene Position habe den Oberbefehlshaber auf eine Ebene mit den anderen Kommandeuren der russischen Militärbezirke stellen und so eine zu prominente Rolle verhindern sollen.
Erst acht Monate nach Beginn des Krieges habe Putin einen Oberkommandierenden für den Ukraine-Krieg ernannt, der keine weiteren Zuständigkeiten hatte, und auch erst, nachdem es zu mehreren erheblichen Rückschlägen gekommen war, so das ISW.
Interner Machtkampf in der russischen Armee
Es folgten weitere Personalrochaden an der Spitze der russischen Militärführung, die der Kremlchef stets von der aktuellen militärischen Lage abhängig gemacht habe: Nach den Teilerfolgen in den Abnutzungsschlachten um Lyssytschansk und Sjewjerodonezk im Donbass wurden russische Generäle befördert, die bis dahin nicht zum engsten Machtzirkel gehörten. Auch war es die Zeit, wo sich die Söldnermiliz Wagner und ihr Chef, Jewgeni Prigoschin, einen Namen machten.
Auch engste Verbündete seien nicht verschont worden, wenn der Präsident frustriert über den Kriegsverlauf war, schreibt das ISW. Nach der blamablen russischen Niederlage in der Region Charkiw im September 2022, als ukrainische Streitkräfte russische Stellungen blitzkriegartig überrannten, habe Kremlchef Putin seinem Generalstabschef Waleri Gerassimow das Vertrauen entzogen: Putin installierte im Oktober Sergei Surowikin als neuen Oberbefehlshaber, der zu den Gerassimow-kritischen Kräften im Militär gehöre und Wagner-Chef Prigoschin nahestehen soll.
Putins Politikstil "eignet sich nicht für einen Krieg"
Doch auch für Surowikin war im Januar Schluss: Nachdem dieser, wie schon seine Vorgänger, nicht die erhofften militärischen Erfolge gebracht habe, musste er seinen Posten räumen. Seitdem ist Waleri Gerassimow nicht nur Generalstabschef der russischen Armee – und damit die Nummer zwei in der Kremlarmee nach Verteidigungsminister Schoigu –, sondern in Personalunion auch Oberbefehlshaber sämtlicher Ukraine-Operationen.
Derzeit könne es sich Putin nicht leisten, auch den loyalen Gerassimow zu demontieren, so das ISW, obwohl auch die Winteroffensive der Russen kaum Erfolge verzeichnet hat und etwa Bachmut noch immer nicht erobert ist. Der Kremldespot habe sich die Fehler im Ukraine-Krieg teils selbst zuzuschreiben, resümiert die ISW-Analyse:
Dessen "Vorliebe für Personalwechsel" sei "bezeichnend für seinen innenpolitischen Führungsstil", bei dem es darum gehe, interne Rivalen nicht zu mächtig werden zu lassen und gegeneinander auszuspielen. Dieser Politikstil eigne sich jedoch nicht "für die Führung eines Militärs, das sich in einem kostspieligen Krieg befindet".
Das ISW geht jedoch davon aus, dass Putin seinen Kurs beibehält: So werde die kommende ukrainischen Gegenoffensive und die Frage, wie die russische Armee sich schlägt, darüber entscheiden, welche Kommandeure als Nächstes befördert oder entlassen werden.
- understandingwar.org: Russian Offensive Campaign Assessment, April 30, 2023 (englisch)