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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Russe flieht ins Ausland "Europa macht es uns so schwer"
Als Putin die Teilmobilisierung ausruft, flieht Stanislav Chatsky – und landet in einem marokkanischen Surfhostel. Ihn plagt die Heimatlosigkeit.
"Cheeeeers!" Auf der Dachterrasse klirren Weingläser, die Stimmung ist ausgelassen. Das Meer verschluckt die untergehende Sonne am Horizont. Nur Stanislav Chatsky sitzt alleine auf einer Holzbank und arbeitet. Seine Augen starren müde auf den Laptop.
Gestern hat der 35-Jährige im Amayour Surfhostel in Taghazout an der südmarokkanischen Küste eingecheckt. So wie ich. Doch Chatsky macht hier keinen Urlaub. "Woher kommst du?", frage ich ihn. "Aus Russland", sagt er.
Zwischen uns entwickelt sich ein tiefes Gespräch – über ein Leben ohne Heimat, den 24. Februar 2022 und den russischen Präsidenten. Fast macht es den Eindruck, als hätte Chatsky nur darauf gewartet, mit jemandem über seine Sorgen und seine Geschichte zu sprechen.
Sein Körper nimmt dann Spannung an
"Ich bin von einem Tag auf den anderen in einem Land aufgewacht, das Menschen tötet", sagt er. Sein Schock sitzt tief. Schnell wird klar: Chatsky ist vor Wladimir Putin und dem russischen Regime geflohen. Seit Februar wohnt er in Marokko und arbeitet von hier remote als Architekt.
Chatsky, der sich aus Sicherheitsgründen ein Synonym für seinen Nachnamen ausgedacht hat, ist eigentlich ein introvertierter Typ. Geht es aber um den Krieg, kommt er aus sich heraus. Sein Körper nimmt dann Spannung an, er sitzt kerzengerade, immer wieder fahren die Hände durch seinen Dreitagebart. Er hat viel zu sagen – und ringt trotzdem nach Worten.
Seine Flucht beginnt am 21. September 2022 – dem Tag, an dem Wladimir Putin die Teilmobilmachung ausruft. Da ist ihm klar: Er will raus aus dem Land. Schnellstmöglich. Ein Flug kommt nicht infrage, der Preis für Tickets von Moskau nach Dubai oder Istanbul liegt bei 9.200 Euro – so viel Geld hat er nicht.
"Bei unseren Politikern weiß man nie"
Hektisch packt er sein Hab und Gut in zwei Rucksäcke, schnappt sich sein Fahrrad und flieht zusammen mit seinem Bruder. Das Ziel: Georgien. Weil er nie gedient hat, ist er von der Teilmobilisierung zwar nicht betroffen, doch Angst hat er trotzdem. "Bei unseren Politikern weiß man nie, ob sie dich nicht trotzdem einziehen", sagt Chatsky.
Schon seit Monaten hatte er mit dem Gedanken gespielt, das Land zu verlassen, berichtet er. Auch schon vor dem Krieg sei die Lage kaum zu ertragen gewesen, so Chatsky, doch seit Russlands Überfall auf die Ukraine sei alles noch schlimmer geworden: Proteste werden sofort zerschlagen und der Krieg darf nicht als Krieg benannt werden.
Der Auslöser für die Flucht war dann aber ein anderer: "Es gab Gerüchte, dass sie die Grenze schließen", sagt Chatsky mit ernster Stimme. Damit war die rote Linie für ihn erreicht.
Die beiden Brüder fliegen von Moskau nach Mineralnyje Wody, knapp 250 Kilometer entfernt von der georgischen Grenze. Die Fahrräder nehmen die beiden in Pappboxen als Gepäckstücke mit. Von dort geht es zunächst mit dem Zug, dann mit den Fahrrädern weiter an den georgischen Grenzübergang Verkhniy Lars.
Mit dem Fahrrad kommt er schneller voran
Als sie ankommen, stauen sich Autos kilometerlang, teilweise seit Tagen harren Menschen hier aus. Es herrscht Panik: Das Trinkwasser ist knapp, Essen und Sprit ebenfalls. Einige verscherbeln ihre Fahrzeuge für die Hälfte ihres Wertes, um schneller den Grenzposten zu passieren. Es grassiert die Angst, die Grenzen könnten bald schließen. Die Brüder sind mit dem Fahrrad deutlich schneller als die meisten, zwei Tage später erreichen sie die georgische Hauptstadt Tiflis. Ohne Schlaf, aber erleichtert.
Tiflis ist in diesen Tagen ein beliebtes Fluchtziel vieler Russen. Die meisten sind junge, akademische und politisch liberal eingestellte Männer wie Chatsky. Rund 112.000 Russinnen und Russen sind nach georgischen Angaben im vergangenen Jahr eingereist und geblieben. Bis zu einem Jahr ist es möglich, sich visumfrei in Georgien aufzuhalten.
Die Ablehnung gegenüber Russland ist hier nicht zu übersehen. Als er am nächsten Tag durch die Stadt läuft, sieht er überall diese Graffiti: "Fuck Russia", "Putin, go home". "Ich habe in diesem Moment so ein tiefes Schamgefühl verspürt", sagt Chatsky. Nicht gegenüber seinem Land, sondern gegenüber denen, die im Namen Russlands den Weltfrieden bedrohen. Wenn Chatsky über seine Heimat spricht, funkeln seine Augen. Trotz allem ist da Hoffnung. Hoffnung, ein freies, demokratisches Land zu werden.
"Das konnte ich mit meinem Gewissen nicht mehr vereinbaren"
Die nächsten Wochen sind kräftezehrend, der 35-Jährige versucht seine Arbeit als Architekt aus Georgien fortzusetzen, doch das ist schwierig: Der Schock sitzt noch so tief, dass Arbeiten kaum möglich ist, sein Büro in Moskau existiert nicht mehr und die wirtschaftliche Lage seines Start-ups ist seit dem Kriegsausbruch angespannt. Einige Kunden haben Aufträge nach Kriegsbeginn gekündigt, andere Projekte beendete Chatsky selbst, weil sie im Auftrag von russischen Behörden waren. "Das konnte ich mit meinem Gewissen nicht mehr vereinbaren", sagt er. Gespartes hat Chatsky kaum. Sechs Wochen könne er überbrücken, mehr nicht.
Mit seiner Mutter, die immer noch in Moskau lebt, hat er engen Kontakt. Sie stehe voll hinter ihm. Mit seiner Oma jedoch sei es schwieriger. Sie ist Anhängerin von Wladimir Putin. "Meine Mutter und ich versuchen, sie von der Propaganda im Fernsehen fernzuhalten – aber es ist schwierig", sagt er. Fast alle seiner Freunde aus der Heimat hätten wie er selbst auch das Land verlassen.
Zwei Monate später zieht es die Brüder weiter, doch von nun an sind sie nicht mehr gemeinsam unterwegs. Der Grund für ihren Aufbruch: Obwohl die Menschen in Georgien eigentlich freundlich seien, hätten die Spannungen zugenommen, sagt Chatsky. Denn: Viele der Russinnen und Russen, die in der georgischen Hauptstadt ankommen, sind im Vergleich zur Bevölkerung wohlhabend und treiben die Preise hoch – zum Ärger der Einheimischen.
"Europa macht es uns so schwer"
Über die Türkei fliegt Chatsky nach Marokko. Viele Optionen hat er ohnehin nicht: Die EU hat das Visaerleichterungsabkommen mit Russland ausgesetzt und viele EU-Länder erschweren die Einreise zusätzlich: Für ein Schengen-Touristenvisum in Deutschland beispielsweise müssen russische Staatsbürger ein Konto bei einer russischen Bank besitzen, die nachweislich auch in den EU-Mitgliedstaaten tätig ist.
Doch die sind mittlerweile fast alle sanktioniert und Zahlungssysteme wie Mastercard oder Visa gar nicht mehr in Russland tätig. Dazu kommen gestiegene Kosten und verlängerte Bearbeitungszeiten. Kurzum: Die Hürde, nach Europa zu kommen, ist sehr hoch. Chatsky findet das enttäuschend. "Ich unterstütze den Westen und seine Werte – aber Europa macht es uns so schwer", sagt er.
Doch in Marokko habe er Kraft und Zuversicht wiedergefunden, sagt er. Der März in Taghazout ist warm und sonnig, vergleichbar mit dem norddeutschen Sommer. Das Leben ist günstig, überall im Ort sprießen Coworking-Spaces aus dem Boden.
"Russland ist ein Gefängnis"
Wie Reisende auf seine Herkunft reagieren? Vor Kriegsbeginn fanden es die Leute spannend, wenn Chatsky erzählte, er käme aus Russland. Nun laute die Antwort oft: "Oh." Vorurteilen sei er bisher aber wenig begegnet. "Europäer verstehen, dass der Mensch nicht unbedingt das Land vertritt." Und obwohl er sich wohlfühle, plage ihn ein Gefühl: Heimatlosigkeit.
Ein paar Sekunden ringt Chatsky um Fassung, dann sagt er: "Russland ist zwar mein Heimatland, aber nicht mein Zuhause. Es ist ein Gefängnis."
"Die Ukraine muss Russland auf dem Schlachtfeld besiegen"
Mit seinem Job läuft es nun besser. In den letzten Wochen konnte Chatsky neue Projekte an Land ziehen, was man merkt: Während die meisten Gäste das Hostel mit dem Surfbrett unter den Armen früh morgens verlassen, sitzt er oft bis in den Abend am Laptop – aber heute nicht. "Hi Wyn, what's up?", ruft er strahlend, als er die Dachterrasse betritt. In der Linken eine Weißweinflasche, in der Rechten einen Gin. Artjom, ein Freund aus seiner Jugendzeit, ist aus Moskau zu Besuch. Die erste Begegnung der beiden seit der Flucht. Gemeinsam trinken wir ein Glas Wein und unterhalten uns. Die beiden wirken innig, witzeln über Anekdoten von früher.
Doch plötzlich platzt der Krieg in die Gesprächsrunde. Es geht um die Minsker Verträge, Putins Expansionspolitik und die Nato. Als Außenstehender könnte man denken: Hier holt gerade ein Oppositionspolitiker zum Rundumschlag gegen Putin aus, so gestochen scharf sind die Analysen.
Dann geht es um diese eine Frage, die sich Diplomaten weltweit stellen: Wie kann der Krieg enden? Chatsky grübelt, hält kurz inne und setzt dann zur Antwort an, die ihm merklich schwer über die Lippen geht: "Die Ukraine muss Russland auf dem Schlachtfeld besiegen für den Frieden in Europa", sagt er. Auch wenn das bedeute, dass noch mehr russische Landsleute fallen. "Gleichzeitig darf der Westen Putin nicht zu sehr in die Ecke drängen, sonst droht eine atomare Eskalation." Wie sich dieser Widerspruch lösen lässt, weiß auch Chatsky um ein Uhr nachts nicht mehr zu beantworten. Wir gehen schlafen.
Solange will er nicht zurück
Gibt es einen Weg zurück? Anders als viele Ukrainer, deren Heimat zerbombt ist, kann Chatsky zurück nach Russland. Dass ihm Konsequenzen wegen seiner Flucht oder gar wegen dieses Artikels drohen, glaubt er nicht. Er habe viel mehr Angst vor dem Leben in einem Land, das sich wie ein Gefängnis anfühlt. Vor der Willkür, dass ein falsches Wort auf Social Media bedeuten kann, verhaftet zu werden.
Vorerst ist Marrakesch sein nächstes Ziel. Eine Empfehlung für ein Hostel hat er auch schon – aus einer Telegram-Gruppe, in der sich geflüchtete Russinnen und Russen in Marokko austauschen. Mehr als 2.800 Mitglieder hat die Gruppe. Doch noch im April muss Chatsky Marokko verlassen, dann sind die 90 Tage abgelaufen, die er dort ohne Visum bleiben darf. Dann möchte er zunächst zurück nach Georgien und dort mit neuen Arbeitsprojekten Fuß fassen.
Und langfristig? "Hm", Chatsky zuckt ratlos mit den Schultern. Was passieren müsste, damit er jemals nach Russland zurückkehrt? "Entweder müsste Putin sterben oder der Krieg enden", sagt er. Aber selbst, wenn das passieren sollte – eine Garantie für ein freieres Russland sei das noch nicht. Und solange seine Heimat ein "Gefängnis" ist, möchte er sicher nicht zurück.
An Visionen für die Zeit danach mangelt es Chatsky nicht. Seine Augen leuchten, wenn er über die Zukunft spricht. "Ich wünsche mir von Wladiwostok bis Portugal ein Europa ohne Grenzen", sagt er. Aber sein größter Traum sei es, Putin vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu sehen, damit die ganze Welt erfährt: Dieser Mann ist schuldig.
- Eigene Eindrücke und Recherchen des Autors vor Ort