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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Militärexperte Carlo Masala "Dann kollabiert die russische Front auf der Krim"
Während Russland seine brutalen Angriffe fortsetzt, wartet der Westen auf die ukrainische Gegenoffensive. Wird sie ein Erfolg? Ein Experte erklärt, warum die Krim der Schlüssel ist.
Die Kreml-Armee setzt weiter auf Attacke: Seit Wochen läuft die russische Offensive in der Ostukraine, seit Wochen kommen die russischen Streitkräfte kaum voran. Tausende Menschen sterben auf beiden Seiten, doch die Ukraine hält Stand. Der Kampf um die Stadt Bachmut ist zur Schicksalsschlacht geworden: Russland will sie um jeden Preis erobern, die Ukraine will sie um jeden Preis halten.
Wie geht der Krieg weiter? Haben die Russen den längeren Atem? Was ist von der ukrainischen Gegenoffensive zu erwarten und sollte Kiew die Krim angreifen? Fragen an den Militärexperten Carlo Masala.
t-online: In Bachmut tobt seit Monaten eine blutige Schlacht, Russland scheint kurz davor, die ukrainischen Verbände in der Stadt einzukreisen. Sollte sich die Ukraine zurückziehen?
Carlo Masala: Ja. Ich habe schon vor Wochen argumentiert, dass die Ukrainer Bachmut verlassen sollten. Westlich der Stadt gibt es einen kleinen Fluss, hinter dem man besser verteidigen könnte. Bisher galt für die Ukrainer: Waren die Verluste beim Halten einer Stadt zu hoch, sind sie in die Umgebung ausgewichen, um von dort weiter zu verteidigen oder sich für eigene Gegenangriffe zu regenerieren. Ich sehe nicht, warum das bei Bachmut anders sein sollte.
Präsident Selenskyj will Bachmut um jeden Preis verteidigen. Rechtfertigen die ukrainischen Verluste noch die Verteidigung der Stadt?
Wir haben keine Ahnung, wie hoch die ukrainischen Verluste sind. Die ukrainische Seite sagt, dass sie im Verhältnis 1:7 angreifende Russen tötet, was aus ukrainischer Perspektive sehr gut wäre. Aber die russische Armee ist zahlenmäßig weit überlegen, daher würde ich solche Angaben mit Vorsicht genießen. Aber der deutlich problematischere Punkt ist: Wenn zu viele professionelle Kämpfer fallen, fehlen die möglicherweise für die Gegenoffensive.
Aus Kiew heißt es, die Ukraine würde ihre gut ausgebildeten Kämpfer für die geplante Frühjahrsoffensive aufsparen. Zugleich häufen sich Berichte aus Bachmut über junge Rekruten, die nicht mal eine Granate werfen können. Ist das nicht auch eine Art Kanonenfuttertaktik?
Man sagt nicht umsonst, Bachmut ist ein Fleischwolf.
Das bezog sich bisher aber eher auf die Russen, die ohne Rücksicht auf Verluste ihre Soldaten an der Front verheizen.
Es gilt für beide Seiten. Wir nähern uns dem Punkt, wo die ukrainischen Verluste, egal wie viel Schaden man der anderen Seite zufügt, kritisch werden für künftige Operationen.
Im Winter gab es das Schreckgespenst einer russischen Großoffensive. Seit Ende Januar führt Russland fast 100 Angriffsoperationen pro Tag durch, aber kommt kaum voran. Wie bewerten Sie die Offensive bisher?
Ich habe ohnehin nicht mit einer umfassenden Offensive an der gesamten Front gerechnet. Was wir sehen, sind mehrere Offensiven an mehreren Abschnitten der rund 500 Kilometer breiten Donbass-Front. Wenn man bedenkt, wie massiv Russland seine Arsenale mit Kriegsgerät und Menschen aufgestockt hat, sind die Erfolge minimal. Ich denke, der Höhepunkt der russischen Offensive ist erreicht.
Die Ukraine will ab April zurückschlagen. Die Frühjahrsoffensive soll alle bisherigen in den Schatten stellen, sogar die Krim befreien, heißt es in Kiew. Wie realistisch ist das?
Von der Rhetorik sollte man Abstand nehmen. Der Erfolg hängt davon ab, wie gut diese Offensive durchgeführt werden wird. Ich denke, es wäre schon ein Riesenerfolg, wenn es der Ukraine gelänge, die südliche von der östlichen Front zu trennen, also ab Saporischschja bis zum Asowschen Meer durchzustoßen. Dann könnten die Ukrainer auch die Krim in Bedrängnis bringen.
Um sie im nächsten Schritt zu erobern?
Es wäre unklug, wenn sie das versuchten. Dafür bräuchten sie zu viele Kräfte, die sie aus dem ganzen Land zusammenziehen müssten. Es würden gefährliche Lücken an anderen Punkten der Front entstehen, die für die Russen leichte Beute wären.
Die Ukraine soll die russischen Kräfte auf der Krim in Bedrängnis bringen, aber nicht angreifen? Erklären Sie das bitte.
Es geht darum, die russische Führung politisch unter Druck zu setzen, indem man eine Krim-Eroberung androht, aber nicht ausführt. Die ukrainische Armee könnte etwa die Versorgungslinien für die russischen Streitkräfte zur Halbinsel angreifen und den Nachschub unterbrechen. Dann kollabiert die russische Front auf der Krim.
Aber wäre das nicht das Startsignal für die Ukraine, sich die Krim zurückzuholen?
Dazu braucht sie mindestens eine Überlegenheit im Verhältnis 5:1. Das schafft sie nur, wenn sie ihre Stellungen anderswo schwächt. Zudem ist eine Halbinsel wie die Krim schwierig anzugreifen.
Militärexperte Carlo Masala
Carlo Masala ist Militärexperte und Professor für internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München. In seinem Buch "Weltunordnung" kritisiert er die Fehler des Westens seit den 90er Jahren und plädiert für eine pragmatische Sicht auf die globale Politik.
Noch nie wurde so schweres Kampfgerät aus dem Westen in die Ukraine geliefert. Umso höher sind die Erwartungen an die geplante Frühjahrsoffensive der Ukraine. Welche Schlüsse zieht der Westen, wenn sie trotzdem scheitert?
Das hängt entscheidend davon ab, ob wir im Westen bis dahin einen Weg finden, die Ukraine nachhaltig zu unterstützen: mit Waffensystemen, Munition, Ersatzteilen und Ausbildung. Wenn uns das nicht gelingt, wird es irgendwann sehr kritisch für die Ukraine.
Sind die Militärhilfen des Westens nicht auch an die Erwartung gekoppelt, dass die Ukraine noch in der Lage ist, offensive Operationen auszuführen?
Ja, gerade für die USA ist es wichtig, dass diese Gegenoffensive Erfolg hat. Wenn nicht, läuft das auf einen jahrelangen Stellungskrieg hinaus. 2024 beginnt in den USA der Präsidentschaftswahlkampf, da werden auch die US-Demokraten die Ukraine nicht mehr so nachhaltig unterstützen können.
Der frühere deutsche Diplomat Wolfgang Ischinger fordert vom Westen, schon jetzt Friedensverhandlungen vorzubereiten. Hat er recht?
Natürlich muss man jetzt schon Verhandlungen vorbereiten, unabhängig davon, wie das Ergebnis auf dem Schlachtfeld sein wird. Das werden wahrscheinlich die schwierigsten Verhandlungen seit 1945. Insofern ist das logisch, ja.
Aber genau das findet offenbar nicht statt.
Und das ist ein Fehler. Man macht es nicht, weil man nicht das Signal senden will, dass man der Ukraine in den Rücken fällt. Daher sollten diese Dinge in internen Runden geklärt werden, nicht öffentlich. Wir sollten aber zuerst die ukrainische Gegenoffensive abwarten. Danach wird man mit den Vorbereitungen beginnen, egal wie diese ausgeht. Ich glaube nicht, dass Europa und die USA einen jahrelangen Stellungskrieg unterstützen werden. Klar ist aber, die Russen müssen mitspielen.
Ein ziemliches Dilemma: Man soll nicht öffentlich über Verhandlungen reden, weil der Kreml das propagandistisch ausschlachten würde, aber ohne öffentlichen Druck scheint sich politisch nichts zu bewegen. Was also tun?
Deswegen sollte man sich im Geheimen zeitnah auf praktische Fragen vorbereiten: Wo könnten Verhandlungen überhaupt stattfinden? Kann man das organisieren wie die Madrider Konferenz über den Nahostkonflikt 1991, wo man wichtige Themen an unterschiedlichen Tischen verhandelt hat? Also zum Beispiel an dem einen Tisch redet man über Demilitarisierung, am anderen über die Lebensbedingungen der Menschen im Donbass, am dritten über den Rückzug russischer Truppen. All solche Fragen müssen jetzt geklärt werden.
Wer sollte das in die Hand nehmen?
Das könnte ein Staat sein – die USA oder Deutschland – oder jemand wie Josep Borrell (der EU-Außenbeauftragte, d. Red.), der anfängt, die Fühler auszustrecken und bestimmte Aspekte zu diskutieren. Man könnte zum Beispiel Völkerrechtler zusammenstellen lassen, welche verschiedenen Autonomiestatuten es in der Welt gibt und welche Vor- und Nachteile sie haben. Dann müsste man die Frage stellen, welches Modell zum Donbass oder zur Krim passen könnte.
Gibt es eine kohärente westliche Strategie hinter der Ukraine-Hilfe?
Nicht wirklich. Der kleinste gemeinsame Nenner ist, die Ukraine militärisch zu befähigen, ihr Territorium zu verteidigen und den Russen Verluste zuzufügen.
Ist diese strategische Leerstelle ein Problem?
Nein, man braucht keine größere Strategie. Wenn man den Krieg als ordnungspolitischen Konflikt sieht, geht es darum, einem Aggressorstaat, der unter dem Schutzmantel seiner Atomwaffen einen Nachbarn überfällt, die Grenzen aufzuzeigen. Denn das schafft sonst einen Präzedenzfall.
Sie haben mal gesagt, es gehe darum, dass man das russische Kosten-Nutzen-Kalkül verändert: Der Krieg soll teurer für Putin werden als der Frieden. Aber Putin kalkuliert Kosten ganz anders als der Westen, menschliche Verluste und wirtschaftliche Rückschläge scheint er in Kauf zu nehmen. Auch beim Nutzen hat Putin die Deutungshoheit: Die Kriegsziele ändern sich andauernd.
Es geht nicht um Kosten an Menschenmaterial oder ökonomische Schäden. Solange die russische Führung glaubt, durch die Fortführung des Krieges mehr gewinnen zu können als zu verlieren, ist sie bereit, Hunderttausende ihrer Leute zu verheizen. Ich glaube, Putins Kosten-Nutzen-Kalkül wird sich in dem Moment verändern, wenn die Krim bedroht ist. Und dafür braucht es eine erfolgreiche ukrainische Offensive im Frühjahr.
Vor genau 20 Jahren zettelten die USA einen illegalen Angriffskrieg gegen den Irak an. Das Land versank in Chaos und Terror, Hunderttausende starben in der Folge. Wie glaubwürdig kann der Westen heute den russischen Angriffskrieg verurteilen und die territoriale Integrität von Staaten einfordern?
Aus Sicht des globalen Südens wenig glaubhaft. Das Argument dort ist: Das ist euer Krieg. 2003 habt ihr nicht so ein Gewese gemacht, als die Amerikaner illegal in den Irak einmarschiert sind und das Land in Schutt und Asche gelegt haben. Das ist natürlich ein großes Glaubwürdigkeitsproblem für den Westen heute. Deswegen lassen sich auch neutrale Staaten wie Indien und Brasilien so schwer auf die Seite des Westens ziehen.
Kanzler Scholz hat Putin für seine "imperialen Ziele" scharf verurteilt. In Ihrem Buch "Weltunordnung" werfen Sie aber auch den USA und Europa Imperialismus vor, in der liberalen Variante: Nach dem Kollaps der Sowjetunion in den 90ern habe der Westen versucht, andere Länder per Waffengewalt zu demokratisieren. Wie imperialistisch ist der Westen heute?
Der liberale Imperialismus ist in den letzten Jahren gescheitert. Ich sehe weder in den USA noch in Europa momentan Bestrebungen, Demokratie in andere Weltregionen zu exportieren. Ich denke, das ist eine der Lehren, die man mittlerweile gezogen hat: dass man zurückhaltend sein sollte, was den Export von Demokratie betrifft, insbesondere mit der Waffe im Anschlag.
Die Freiheit der Iraker galt den USA angeblich als Grund für die Invasion, heute wird mit der Freiheit der Ukrainer die Verteidigung gegen Russland legitimiert. Sehen Sie Parallelen?
Nein, die Ukraine ist eine Demokratie, der Irak war keine. Der liberale Imperialismus bestand darin, dass der Westen undemokratische Staaten demokratisieren wollte, nicht, dass er existierende Demokratien verteidigen wollte. Der Ukraine-Krieg lässt sich nicht mit dem Irak- oder dem Afghanistan-Desaster vergleichen.
"Es gibt kein höheres Ziel als Freiheit", sagte US-Präsident Biden kürzlich in Warschau, um seine Ukraine-Unterstützung zu bekräftigen. Ist das nicht derselbe Sound wie 2003?
Das ist das Gerede für die Europäer. In der internationalen Diskussion redet niemand so. Da ist allen klar, es geht um die territoriale Integrität von Staaten und den Erhalt des Völkerrechts. Auch in den UN-Resolutionen geht es nicht um Demokratie oder Freiheit, sondern um Unverletzlichkeit von Grenzen. Die gemeinsame Überzeugung ist: Wenn Russland es gelingt, in der Ukraine Gewinne zu machen, öffnet das Nachahmern Tür und Tor.
- Interview mit Carlo Masala