Militärexperte warnt vor düsterem Szenario Überfall auf Deutschland, falls Putin den Krieg gewinnt?
Militärexperte Gustav Gressel warnt vor einem düsteren Szenario, sollte Russland den Ukraine-Krieg gewinnen. Er übt scharfe Kritik an der EU-Führungsriege.
Der Militärexperte Gustav Gressel hat eine zu zögerliche Haltung der europäischen Regierungen bei der militärischen Unterstützung der Ukraine scharf kritisiert. Die Alternative zu weiteren Hilfen sei, "in zehn Jahren selbst Krieg führen zu müssen, gegen ein Russland, das bei uns einmarschiert", warnte er im Interview mit dem Magazin "Stern". Nur durch eine Niederlage Russlands könne auch ein Frieden in Europa dauerhaft erreicht werden.
"Das Problem ist, wir haben es in Europa weitestgehend mit Hosenscheißern in politischen Führungsriegen zu tun, die sich aufgrund der nuklearen Disparität nicht trauen, über die geringste Hürde alleine zu springen", so Gressel, der sich auf sicherheitspolitische und militärstrategische Fragen mit Fokus auf Osteuropa und Russland spezialisiert hat. "Da muss der Amerikaner hergehen und sie an die Hand nehmen und eskortieren, so wie das bei kleinen Kindern der Fall ist."
In der Bundesregierung wird aktuell über zusätzliche Waffenlieferungen an die Ukraine sowie über mögliche Friedensverhandlungen mit Russland debattiert (hier lesen Sie mehr). Trotz der Bitten aus Kiew lehnt die Ampelregierung die Abgabe moderner Panzer der Typen Leopard und Marder bislang ab. Doch der Druck steigt: Die USA hatten zuletzt vermeldet, Patriots liefern zu wollen – das wohl mächtigste westliche Flugabwehrsystem.
Was die Amerikaner lieferten, sei kriegsentscheidend, so Militärexperte Gressel. Die USA hätten aber auch Möglichkeiten, die Ukraine mit Gerät wie Kampfpanzern oder Schützenpanzern zu beliefern. Der Bedarf daran sei groß. Aber die Amerikaner verwiesen gerne darauf, dass Europa selbst mehr liefern könnte.
"Ausreden-Karussell des Kanzlers hat noch reichlich Munition"
Auch gegen die Bundesregierung teilte Militärexperte Gressel auf Nachfrage nach einer Lieferung von Kampfpanzern wie dem Leopard aus: "Das Ausreden-Karussell des Kanzlers hat noch reichlich Munition und wird befeuert durch seine Partei, die SPD, und die parteitreuen Blogger und Trolle, die immer bemüht sind zu betonen, dass erst die USA liefern müssen, bevor Deutschland dran ist." Dieser Kreislauf werde nur dann gebrochen, wenn Washington öffentlich fordere, dass Deutschland mitzieht.
Man müsse zudem aufhören, Russland das Signal zu geben, wir seien nur an Deeskalation interessiert – und an einer erneuten wirtschaftlichen Kooperation nach dem Krieg. "Bei all seiner Verrücktheit ist Putin gut in der Lage, die Stimmung unter den Staatschefs zu lesen, denen er gegenübersteht und mit denen er telefoniert", so Gressel.
"Hat das Putin kapiert?"
An der Front in der Ukraine erwartet Gressel in den kommenden Monaten weitere zähe Gefechte. Dass die Russen freiwillig abziehen, hält er für unrealistisch. Aber auch die Entschlossenheit und der Wunsch nach einem "Siegfrieden" der Ukrainer werde laut Gressel durch Russlands Vorgehen noch gestärkt.
Er warnte vor einer weiteren russischen Großoffensive in der Ukraine im Frühjahr. Selbst einen erneuten Sturm auf Kiew schloss er nicht aus. Das sei allerdings ein extrem schwieriges Vorhaben für die russischen Truppen, denn sie kämpften weiterhin mit den schon bekannten Problemen: Es mangele an Logistik, gut ausgebildeten Strukturen für Koordination im Gefecht, an Stabsoffizieren. Da habe es schon viel Abnutzung gegeben.
Auf taktischer Ebene habe man aus den Niederlagen in der Vergangenheit gelernt. "Aber hat das Putin kapiert? Oder befiehlt er seiner Armee Angriffe auf Ziele, die jenseits ihrer praktischen Reichweite und Möglichkeiten liegen?", fragt Gressel. Es wäre nicht das erste Mal, dass Russland aus politischen Gründen Dinge probiere, die militärisch schwer durchführbar seien.
Gressel schätzt, dass der Krieg noch bis zum Frühjahr 2024 andauern wird. Auf die Frage, ob er an einen Sieg der Ukraine glaubt, antwortete er: "Ich hoffe es."
- stern.de: Interview mit Gustav Gressel zu Russlands Kriegsführung (kostenpflichtig)
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa