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Putins schärfste Waffe ist der Winter: "Schrecklicher Albtraum"


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Ukraine-Krieg
Das ist jetzt Putins schärfste Waffe


Aktualisiert am 28.12.2022Lesedauer: 5 Min.
Verzweiflung in der Ukraine: Der Winter bringt noch größere Herausforderungen für die Zivilbevölkerung mit sich.Vergrößern des Bildes
Verzweiflung in der Ukraine: Der Winter bringt noch größere Herausforderungen für die Zivilbevölkerung mit sich. (Quelle: Artur Widak/imago-images-bilder)

Was in Deutschland an den Weihnachtstagen für viele selbstverständlich ist, fehlt in der Ukraine an allen Ecken und Enden. Der Winter bringt noch mehr Leid und Tod.

Ein strahlender Weihnachtsbaum, ein reichlich gedeckter Tisch und ein gemütlicher Filmabend mit der Familie: So sieht in diesen Tagen das Leben vieler Deutscher aus. Trotz hoher Inflation – den meisten geht es hierzulande gut.

Umso mehr gilt das im Vergleich zu jenen Szenen, die sich rund 1.800 Kilometer entfernt abspielen: Von Festtagsstimmung und Entspannung kann in der Ukraine keine Rede sein – im Gegenteil. Vor zehn Monaten sind die russischen Truppen einmarschiert und bringen seitdem Tod und Verderben über das Land. "Russland plant für einen langen Krieg", hatte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg zuletzt betont. Ein Ausweg aus der Misere? Nicht in Sicht.

Heftige Angriffe auf Energieversorgung

Grund zur Sorge geben vor allem die verstärkten russischen Angriffe auf die Energie-Infrastruktur der Ukraine. Seit Wochen bricht in vielen Regionen des Landes immer wieder die Versorgung mit Strom, Wasser und Wärme zusammen. Kremlchef Wladimir Putin nutzt den Winter als Waffe: Minusgrade und Schnee bedrohen das Leben von Zivilisten.

Wie schlimm die Lage wirklich ist, wissen vor allem Vertreterinnen und Vertreter von Hilfsorganisationen, die vor Ort das Leid und die Verzweiflung gesehen haben. Sie appellieren in Gesprächen mit t-online: Die Ukrainerinnen und Ukrainer brauchen weiterhin viel Unterstützung – jetzt, aber auch über den kalten Winter hinaus.

Besorgniserregende Lage in mehreren Regionen

Am stärksten betroffen von den Stromausfällen sind laut Präsident Wolodymyr Selenskyj die Region Kiew, Winnyzja und Umgebung sowie Lwiw. Aber auch in Odessa, Poltawa und Dnipropetrowsk haben die Menschen regelmäßig mit Strom- und Heizungsausfällen zu kämpfen, teils tagelang. Das macht den ohnehin schon schwierigen Kriegsalltag zeitweise unberechenbar.

"Es ist alles sehr chaotisch", berichtet Mario Göb von der Diakonie Katastrophenhilfe im Gespräch mit t-online. Der Programmkoordinator war gerade erst in der Ukraine unterwegs, unter anderem in der Hauptstadt Kiew und im westlichen Uschgorod, wo Hilfspakete zusammengestellt werden.

Die ukrainische Regierung versuche, die Stromversorgung zu stabilisieren, aber das funktioniere aufgrund der heftigen Angriffe meist nicht planmäßig, sagt Göb. "Russland will die Energieversorgung außer Gefecht setzen – und schafft das temporär auch." Das hat verheerende Konsequenzen, wie der Helfer berichtet: "In den Wohnungen ist es eiskalt, die Menschen können nicht kochen, wenn sie keine speziellen Vorrichtungen oder Holzöfen haben."

"Viele Menschen sind schwer traumatisiert"

Die Arbeit der Hilfsorganisationen sei stark beeinträchtigt. Angesichts der fortwährenden russischen Angriffe weiten sich die Stromausfälle immer weiter aus, sodass noch mehr Zivilisten betroffen sind – bei Temperaturen bis zu minus 20 Grad. Insgesamt sind derzeit rund elf Millionen Menschen in der Ukraine auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Viele von ihnen können die kalten Schutzbunker tagelang nicht verlassen, zu groß ist die Gefahr von Raketeneinschlägen. Deshalb sei es für die Ukrainerinnen und Ukrainer extrem schwer, den Alltag zu bestreiten, sagt Göb.

"Viele Menschen sind schwer traumatisiert: Da ist die Mutter, die für ihren fünfjährigen Sohn kocht – und auf einmal schlägt direkt neben ihrem Haus eine Bombe ein. Oder die Frau, deren Tochter seit der Flucht sehr viel malt – aber keine Blumenwiese oder Fische. Sie malt die ganze Zeit nur Monster", erzählt er.

(Quelle: Christoph Püschner / Diakonie Katastrophenhilfe)

Diakonie Katastrophenhilfe

Die Diakonie Katastrophenhilfe ist das humanitäre Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in Deutschland. Seit 1954 unterstützt die Organisation Menschen, die Opfer von Naturkatastrophen, Krieg und Vertreibung geworden sind und diese Notlage nicht aus eigener Kraft bewältigen können, so auch in der Ukraine. Dort leistet die Organisation mit Partnern Nothilfe in den Regionen rund um Kiew, Lwiw und Dnipro und stellt für Ältere, Menschen mit Behinderungen und Geflüchtete unter anderem Lebensmittel, Wasser, Unterkünfte, Medikamente sowie Hygieneartikel bereit und bietet psychosoziale Hilfe an. Mario Göb (Foto) ist Programmkoordinator für die Ukraine bei der Diakonie Katastrophenhilfe.

"Den extrem eisigen Temperaturen schutzlos ausgeliefert"

Auch Christine Kahmann, stellvertretende Pressesprecherin des UN-Kinderhilfswerks Unicef Deutschland, hat in der Ukraine erlebt, welch große Herausforderungen der Winter für die Bevölkerung mit sich bringt. "Die Menschen sind den extrem eisigen Temperaturen schutzlos ausgeliefert", sagt sie im Gespräch mit t-online. Die Eltern müssten zusehen, wie sie ihre Kinder durch den Winter bringen. Kahmann hat unter anderem die Städte Charkiw, Kiew, Balaklija und Odessa besucht.

Die Stromversorgung in Odessa wurde so stark beschädigt, dass es laut den Behörden Wochen dauern wird, um sie zu reparieren. Das bedeute nicht nur, dass die Menschen frieren und krank werden – sondern auch, dass Geburtsstationen ohne Generatoren nicht funktionsfähig sind und Schulen sich ohne Generatoren nicht beheizen lassen, sagt Kahmann.

Ukraine benötigt Generatoren

Strom, so wird es in den Gesprächen mit den Helferinnen und Helfern vor Ort deutlich, ist das Wichtigste, was die Ukraine jetzt braucht. Ohne ihn geht fast nichts in dem kriegsgebeutelten Land.

Vergangene Woche appellierte der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal an ausländische Partner, es brauche noch etwa 17.000 größere oder industrielle Generatoranlagen, um durch den Winter zu kommen. Bisher hätten Unternehmen bereits 500.000 Generatoren importiert. Wie das unabhängige belarussische Nachrichtenportal Nexta berichtete, hat auch Deutschland Dutzende solcher Geräte in die Ukraine geschickt.

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Göb von der Diakonie Katastrophenhilfe gibt jedoch auch zu bedenken, dass Generatoren allein nicht die Probleme im Winter lösen. "Große und laute Generatoren können nicht mal eben in den dritten Stock eines Gebäudes getragen werden und alle Räume mit Strom und Wärme versorgen." Deshalb benötigten die Menschen auch eine Grundausstattung: warme Bettdecken, Handschuhe, Mützen und Schals. "Für uns sind das Basics, für die Ukrainerinnen und Ukrainer sind diese Sachen überlebenswichtig", sagt Göb.

"Diese Worte zeigen den Horror dieses schrecklichen Krieges"

Besonders schlimm sei die Situation für die Kinder, sagt Kahmann von Unicef. Ohne Strom, Wasser und Heizung seien sie einerseits extrem anfällig für Atemwegserkrankungen und Unterkühlung. Gleichzeitig sei es sehr bedrückend, wenn eine Jugendliche, nach ihrer Zukunft gefragt, antworte, dass es für sie erst einmal das Wichtigste sei, die kommenden zwei Jahre zu überleben. "Diese Worte zeigen den Horror dieses schrecklichen Krieges." Die psychischen Belastungen für die Kinder seien allgegenwärtig.

(Quelle: © UNICEF/UNI276423/Bänsch)

Unicef

Unicef ist das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (United Nations Children's Fund). Unicef Deutschland wurde 1953 als Verein gegründet, mit dem Auftrag, die Kinderrechte für jedes Kind zu verwirklichen, unabhängig von seiner Hautfarbe, Religion oder Herkunft. Die Hilfsorganisation verteilt in der Ukraine wärmende Kinderkleidung, Decken, Lebensmittel und Wasser. Mobile Gesundheitsteams versorgen die Familien mit Medikamenten und medizinischer Hilfe. Zudem wurden Kinderzentren eingerichtet, wo Kinder spielen können und psychosoziale Hilfe erhalten. Christine Kahmann (Foto) ist stellvertretende Pressesprecherin von Unicef Deutschland.

Viele wachten nachts auf – in der Angst, dass Raketen ihr Zuhause treffen, so Kahmann. "Das Leben ist für sie zu einem schrecklichen Albtraum geworden." Anstatt unbeschwert auf dem Spielplatz herumzutollen, müssten die Kinder in Schutzkellern ausharren. Diese Erfahrungen prägten sich tief in die Seelen der Jungen und Mädchen ein. "Die jungen Menschen sehnen sich nach Frieden. Sie sehnen sich nach ihren Vätern. Sie sehnen sich danach, wieder in die Schule zu gehen und ihre Freundinnen und Freunde zu sehen", so Kahmann.

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Der Kriegsalltag ist oftmals paradox: In den dunklen und kalten Schutzkellern spielen die Kinder, um sich abzulenken – zugleich leuchten immer wieder die Warn-Apps der Erwachsenen auf, weil Raketen das Land treffen.

Hohe Arbeitslosenquote, hohe Inflation

Gebraucht wird neben Strom vor allem auch Geld. Mario Göb von der Diakonie Katastrophenhilfe berichtet von 4.000 Wärmestuben, die verschiedene Hilfsorganisationen in der Ukraine eingerichtet haben. Dort bekommen die Menschen Essen, werden notdürftig medizinisch versorgt, es gibt Strom – und eben auch Wärme.

Aber: Die ukrainische Regierung könne die Wärmestuben nicht allein ausreichend finanziell unterstützen, erklärt der Programmkoordinator. "Die meisten Gelder fließen in die Verteidigung." Deshalb sei der Bedarf enorm. Auch die Unterstützung der Bundesregierung für die Menschen müsse weitergehen, nicht zuletzt wegen der enorm angestiegenen Arbeitslosenquote und weil auch in der Ukraine die Inflation manche Produkte drei- bis viermal teurer gemacht hat.

Christine Kahmann von Unicef ergänzt: "Es braucht einen langen Atem angesichts der schwierigen Lage, auch über den Winter hinaus."

"Das habe ich so noch nie erlebt"

Eines hat die Helferin und den Helfer bei ihren Besuchen in der Ukraine jedoch besonders beeindruckt: die Hoffnung und der Optimismus der Bevölkerung. "Das habe ich so noch nie erlebt – wie die Menschen zusammenstehen, wie sie sich nicht unterkriegen lassen und wie dankbar sie für Hilfe sind", sagt Göb.

Er denkt an die 93-jährige Nina, die ihm versichert hat: "Ich werde nicht in einer Notunterkunft in Uschgorod sterben." Die Frau stehe jeden Morgen auf und versuche, die Enkel zu dem Gedanken zu ermutigen, dass der Tag etwas Positives bringen werde, erzählt er. "Sie will nach Hause zurückkehren und dort irgendwann friedlich einschlafen", so Göb.

Auch Kahmann hat den Zusammenhalt vor Ort deutlich gespürt. Die Menschen gäben trotz allem nicht auf. "Die Familien feiern Kindergeburtstage in den Schutzkellern, um ihnen eine Freude inmitten des Krieges zu machen – und so werden sie auch versuchen, das Weihnachtsfest für die Kinder so positiv wie möglich zu gestalten."

Verwendete Quellen
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