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Überlebender über russische Folter: Stromkabel an Zehen, Fingern und Genitalien


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Überlebender schildert russische Folter
Stromkabel an Zehen, Fingern und Genitalien

  • Daniel Mützel
Von Daniel Mützel, Kupjansk

Aktualisiert am 11.12.2022Lesedauer: 6 Min.
Dreieinhalb Monate verbrachte er in dem Gefängnis.Vergrößern des Bildes
Dreieinhalb Monate verbrachte er in dem Gefängnis. (Quelle: Byron Smith)

In einem Gefängnis in der Ostukraine hat die russische Armee Menschen gefoltert, bis diese "den Verstand verloren". t-online hat den Ort des Schreckens mit einem ehemaligen Insassen besucht.

Der Ort, an dem Vitaliy Sayapin Todesangst hatte, ist ein kahler Raum mit hellgrünen Wänden: sechs Quadratmeter, ein Fenster, ein Tisch, eine Bank, zwei Stühle. Auf dem Boden stehen Becher und leere Wasserflaschen, auf dem Tisch zwei ausgetrunkene Whiskyflaschen. Die Zigaretten aus Belarus, die Holzlatte, mit der er geschlagen wurde – alles ist noch da.

Vitaliy Sayapin, 42 Jahre alt, Verwaltungsbeamter der Stadt Kupjansk im Osten der Ukraine, steht mitten im Raum und sagt: "Hier habe ich mich zum ersten Mal nach dem Tod gesehnt."

Sayapin ist zurückgekehrt in die Charkiwska Straße 14, das Polizeirevier von Kubjansk, das die russischen Besatzer in ein Foltergefängnis verwandelten. Dreieinhalb Monate haben sie ihn hier gefangen gehalten. Sie schlugen ihn, folterten mit Stromschlägen, bedrohten und beschimpften ihn. Sie brachen seine Rippen und seinen Lebenswillen.

Sayapin hat überlebt. Aber in vielen Nächten sei er noch immer in diesem Raum mit den grünen Wänden, sagt er.

Nun, da die Russen fort sind, ist er zurückgekehrt. Er will erzählen, was er und die anderen rund 200 Männer und acht Frauen im Foltergefängnis von Kupjansk erlebt haben. Denn es steht in krassem Gegensatz zur russischen Propaganda, die den Krieg noch immer damit begründet, Zivilisten vor einem angeblich verbrecherischen Regime in Kiew zu beschützen.

Der hohe Preis des Friedens

Sayapins Geschichte zeigt, wie brutal die russischen Besatzer gegen Menschen vorgehen, die gegen ihre Regeln verstoßen oder in ihren Augen nicht kooperieren. Sie belegt, wie hoch der Preis ist, den die Ukrainer zahlen müssten, wenn sie um des Friedens willen Teile ihres Landes an Russland abträten.

Denn anders als viele andere ukrainische Städte hatte sich Kupjansk bereits im Februar widerstandslos den Russen ergeben. Der damalige Bürgermeister Hennadyj Matsehora kapitulierte, als die russischen Truppen drohten, die 30.000 Einwohner große Stadt zu stürmen.

Er wolle das Leben der Bewohner und die Stadt vor der Zerstörung retten, erklärte Matsehora damals. Einige Bürger sahen in ihm deshalb einen Verräter, andere glaubten seinem Versprechen: Statt eines aussichtslosen Kampfes mit vielen Opfern wären so Frieden und Stabilität garantiert.

Sayapin glaubte ihm nicht, aber machte trotzdem weiter seinen Job im Kupjansker Stadtrat. Er war dafür zuständig, zwangsumgesiedelte Menschen, die nach Kupjansk kamen, zu registrieren. Sayapin besteht darauf, weiter "nach ukrainischem Recht" gearbeitet zu haben, was zum Beispiel hieß, den Zwangsumgesiedelten dabei zu helfen, ihr Recht auf Entschädigung gegenüber dem ukrainischen Staat geltend zu machen. Die russische Armee habe sich nicht eingemischt, sagt er.

Der Albtraum beginnt

Bis zum 28. Mai. An diesem Samstag wollte Sayapin mit seiner Frau und seiner zehnjährigen Tochter telefonieren, die vor der Invasion der Russen ins Ausland geflohen waren. Die Besatzer hatten im März das Mobilfunknetz gekappt, lange Zeit konnte er sie daher nicht erreichen. Doch nun gab es an einigen Stellen der Stadt wieder Netzempfang.

Es dämmerte schon, als Sayapin in der Nähe seines Elternhauses im Freien versuchte, seine Frau zu erreichen. Vergeblich. Er kam nicht durch.

Plötzlich näherten sich zwei Autos und hielten, er stand im Scheinwerferlicht. Männer mit Waffen in den Händen stiegen aus dem Wagen, stießen ihn zu Boden und durchsuchten ihn. Er habe gegen die Ausgangssperre verstoßen, sagten sie, er müsse mit zur Polizeiwache kommen.

Das alte Polizeirevier nutzten die Russen zu dem Zeitpunkt bereits als Internierungslager. Hier landeten Menschen wegen kleinster Regelverstöße oder weil sie als verdächtig galten. Die Russen steckten sie zu Hunderten in viel zu kleine Zellen. Nahrung und Wasser gab es nur so viel, um am Leben zu bleiben, sagt Sayapin.

"Katzes" Spezialgebiet: Insassen quälen

In der Region Charkiw soll die russische Militärverwaltung ein ganzes Netzwerk solcher Foltergefängnisse unterhalten haben: Insgesamt 22 fanden die ukrainischen Strafverfolger, nachdem sich die Besatzer aus dem Gebiet zurückgezogen hatten. Laut dem Chefermittler der Charkiwer Polizei, Serhiy Bolwinow, wird die genaue Zahl der Opfer und die der Täter seitdem untersucht.

Einer der Peiniger, Spitzname "Katze", ist ein kasachischer Staatsbürger und besuchte vor dem Krieg eine Panzerschule in Charkiw. "Katze" war maßgeblich für das Quälen der Insassen zuständig, so Bolwinow.

t-online hat versucht, Sayapins Angaben zu überprüfen. Er habe gegenüber der Kiewer und der Charkiwer Polizeibehörde mündlich seinen Fall geschildert, sagt Sayanin, eine schriftliche Erklärung – auch "gegenüber internationalen Institutionen" – soll bald folgen. Sein Mithäftling Yevhen Sinko bestätigt t-online Sayanins Geschichte. Sinko saß gegenüber von Sayanins Zelle, so der Chef des örtlichen Krankenhauses, der selbst zum Opfer wurde, weil er sich weigerte, für die Russen zu arbeiten. Sayanin, er und die meisten anderen Häftlinge seien regelmäßig gefoltert worden, sagt Sinko.

"Warum magst du Russland nicht?"

Die Bedingungen in dem Gefängnis seien "schrecklich" gewesen, sagt Sayapin: 21 Insassen mussten sich einen Viererraum teilen, acht wurden in eine Einmannzelle gesperrt. Viele mussten im Freien auf dem Betonboden schlafen – ohne Wasser, ohne Toilette, ohne Würde. Medizinisch versorgt wurden sie nur in Notfällen, sagt Sayapin: "Wir wurden rund um die Uhr verhört, geschlagen, eingeschüchtert und verspottet."

Gleich am ersten Tag nach seiner Ankunft brachten die Russen ihn in den Raum mit den grünen Wänden. Sie verhörten ihn, wollten wissen, wo er arbeitet, wer und wo seine Familie sei, wie er über Russland und den Bürgermeister denke. "Warum magst du Russland nicht?", fragte ein Soldat. Sie schlugen ihm auf den Kopf, drohten ihm mit weiteren Schlägen. Nach einer Stunde war es vorbei.

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"Ich hatte nur den Wunsch, zu sterben"

Am nächsten Tag ging das Verhör weiter. Diesmal stellten die Russen keine Fragen. Drei Männer fesselten seine Hände und befahlen ihm, sich in die Ecke zu setzen. Sie klemmten ihm Drähte um die Ohren. Sayapin sagt, der erste Stromschlag sei so heftig gewesen, dass er ohnmächtig wurde.

Als er zu sich kam, war alles verschwommen. Sie sagten: "Sag uns alles!" – aber er wusste nicht, was er ihnen erzählen sollte. Sie verkabelten seine Zehen, Finger, Lippen und seine Genitalien. Um die Elektrostöße noch effektiver zu machen, befeuchteten sie seine Haut an den Kontaktpunkten. "Das Unerträgliche beim Foltern war nicht mal der Schmerz, sondern die reine Verzweiflung, dass es nie aufhören wird. Ich hatte nur den Wunsch, zu sterben."

Als sie von ihm abließen und ihn zurück in seine Zelle schickten, konnte er nicht mehr laufen, sein Körper war von Schwellungen übersät. Noch vier weitere Male wurde er verhört. Ein Mal schickten sie ihn auf den Hof, um seine Erschießung vorzutäuschen. "Ich hatte Todesangst."

"Dann vergaßen sie mich"

Die "Registrierung" sei eine besonders grausame Foltermethode gewesen, sagt Sayapin: Neuankömmlinge wurden von den Wärtern zur "Begrüßung" mit einem Stock geschlagen, nicht hart, aber immer auf dieselbe Stelle des Körpers, was nach einer Weile "unerträgliche Schmerzen" verursache.

"Das Schlimmste waren die Schreie in der Nacht und die Ungewissheit", sagt Sayapin. Was mit ihm passieren wird, wie lange er noch in dem Kerker bleiben muss – Fragen wie diese wurden zur Qual. "Manche Insassen verloren darüber den Verstand", sagt er.

Zum Sterben zurückgelassen

Dann, Anfang September, hörte Sayapin plötzlich Schüsse und Explosionen in der Stadt. Er verstand nicht, was vor sich ging. "Wir lebten in einem kompletten Informationsvakuum." Am 4. September traf eine ukrainische Himars-Rakete das gegenüberliegende Hauptquartier der Besatzungspolizei, die von Separatisten aus der Region Luhansk geleitet wurde.

Die Explosion sei so heftig gewesen, dass sich die Gefangenen unter die Betten verkrochen, sagt Sayapin. Auch die Wärter wurden nervös, sie rüttelten an den Türen und prüften, ob sie verschlossen sind.

Nach einigen Tagen verstummten sie. Sie brachten kein Essen, reagierten nicht mehr auf Hilferufe. "Da wussten wir, dass wir zum Sterben zurückgelassen wurden", sagt Sayapin. Sollte eine Artilleriegranate in das Gefängnis einschlagen, "würde die Zelle zu unserem Grab."

"Wer beschützte mich?"

Viele seien so schwach gewesen, dass sie ihren Tod schon akzeptierten, sagt Sayapin. Vier jungen Männern sei es jedoch gelungen, eine Holzbank aus dem Boden zu reißen, das einzige Fenster im Raum zu zerschlagen und die Gitterstäbe zu verbiegen. Sie gelangten ins Freie, liefen zurück ins Gebäude und schlossen die Zellentüren auf.

Sayapin war endlich frei.

Er lief in die dunkle Nacht, orientierungslos und voller Angst davor, dass er seinen Wärtern wiederbegegnet. Doch die Russen waren weg. Sayapin schlich nach Hause. Einen Tag später, am 10. September, wurde Kupjansk durch ukrainische Truppen befreit.

Denkt Sayapin heute an den damaligen Bürgermeister, der vorgab, die Russen in die Stadt zu lassen, um die Bewohner vor Gewalt zu schützen, wird er wütend.

Noch nie zuvor habe sich Sayapin so schutzlos gefühlt.

"Wer beschützte mich?"

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