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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Selenskyj-Berater über Krieg "Kaum noch zu offensiven Operationen in der Lage"
Sollte die Ukraine mit Russland verhandeln? Mychajlo Podoljak, enger Berater des ukrainischen Präsidenten Selenskyj, erklärt im Gespräch mit t-online Putins Kalkül – und sieht Hinweise darauf, dass Deutschland bald Panzer an die Ukraine liefert.
t-online: Herr Podoljak, wie ist die Lage in Cherson?
Mychajlo Podoljak: Die ukrainische Armee befreit im Gebiet Cherson einen Ort nach dem anderen. Doch die Lage in der Stadt Cherson ist unklar. Die Russen versuchen, dort eine Todesfalle zu errichten. Sie verminen Straßen, Häuser, Abwasserkanäle. Am anderen Ufer des Dnipro steht russische Artillerie in Position und könnte die Stadt in Schutt und Asche legen. Wir müssen vorsichtig sein.
Trotzdem ist die russische Armee stark in der Defensive. Steigen oder sinken damit die Chancen auf einen Waffenstillstand?
Wir sehen derzeit keinen Spielraum für Verhandlungen. Russland ist gerade dabei, den Krieg zu verlieren.
Viele hatten gehofft, dass es auf dem G20-Gipfel Mitte November zu einer Annäherung kommen könnte. Nun hat Kremlchef Wladimir Putin seine Teilnahme offenbar abgesagt. Hat er damit den Weg frei gemacht für den ukrainischen Präsidenten?
Nein, wieso?
Wolodymyr Selenskyj hatte zuvor erklärt, nicht teilnehmen zu wollen, sollte Putin kommen.
Wir würden uns selbst einengen, wenn wir unsere Teilnahme von der Nichtteilnahme Putins abhängig machen. Das G20-Treffen ist für die Ukraine sehr wichtig. Ich kann Ihnen bestätigen: Präsident Selenskyj wird teilnehmen.
Gastgeber Indonesien hätte Putin gerne dabei gehabt.
Wir nicht. Sehen Sie, zwischen beiden Präsidenten gibt es doch einen riesigen Unterschied: Selenskyj bestimmt die globale Agenda mit, Putin hingegen ist ein Politiker von gestern, ein Anachronismus. Nur wegen seines Kriegs ist er überhaupt international ein Thema. Er hat aber keinen Einfluss auf die globale Politik. Zugleich weiß Putin, dass eine Reise nach Indonesien für ihn nicht einfach sein würde: Er wäre mit zahlreichen Staatschefs konfrontiert, die eine andere Haltung zum Krieg haben. Putin käme als Paria, ich glaube, das wollte er sich nicht antun.
Immerhin hätte er sich online dazuschalten können.
Wer würde Putin zuhören wollen, wenn er sich online dazuschaltet? Er würde nur seine historischen Unwahrheiten und seine Propaganda wiederholen. Putin hat nichts Neues zu erzählen, keine Lösungen anzubieten. Er kann nicht einmal die Motive für seinen Krieg erklären. Wir schenken ihm zu viel Aufmerksamkeit. In einem Jahr erinnern wir uns vielleicht gar nicht mehr an Putin.
Das bleibt abzuwarten. Statt vom Kremlchef soll die russische G20-Delegation nun von Außenminister Lawrow angeführt werden. Aus Russland gab es zuletzt vermehrt Signale, dass man verhandeln will. Wie glaubwürdig ist das?
Es sind gerade viele Spekulationen im Umlauf, wie der Krieg verläuft und ob Russland wirklich verhandeln will. Aber die Russische Föderation hat nichts anderes anzubieten als Krieg. Lassen Sie mich klar sagen, was Russland wirklich meint, wenn es von Verhandlungen spricht: Die Ukraine soll ihr Territorium aufgeben, obwohl Russland gerade den Krieg verliert. Nur dann ist der Kreml bereit für eine Waffenruhe. Wenn nicht, gibt es weiter Krieg. Es ist dasselbe Ultimatum wie vor dem Krieg. Das sind keine Verhandlungen.
Putin ist offenbar überzeugt, dass es zu einer Einigung kommen wird. In einer Rede Ende Oktober sagte er, der Westen müsse "früher oder später" mit Russland reden.
Man muss bei Äußerungen aus Russland immer vorsichtig sein. Putins Problem ist, dass er nicht zuhören kann. Er kann seine Position nicht überzeugend darlegen und ist unfähig, eine rationale Diskussion zu führen. Daher wird er auch seine zunehmende Isolierung in der Welt nicht aufhalten können. Der Kreml hat kein echtes Interesse an Gesprächen. Wir hingegen sind bereit für Verhandlungen, aber nur unter bestimmten Bedingungen.
Welche sind das?
Präsident Selenskyj hat bereits einige genannt, unter anderem die Befreiung der von Russland besetzten Gebiete sowie die Achtung der international anerkannten Grenzen der Ukraine. Russland muss seine Angriffe auf die zivile Infrastruktur stoppen, Kriegsschäden begleichen und seine Kriegsverbrecher an den Internationalen Strafgerichtshof ausliefern.
Glauben Sie, Putin würde sich darauf einlassen?
Uns ist egal, wer das in Russland akzeptiert. Wir können aber nicht mit einer Person verhandeln, die grundlos ein anderes Land überfallen hat, jetzt den Krieg verliert, aber weiter an Ultimaten festhält.
US-Medien berichten, dass die Biden-Administration sanften Druck auf Kiew ausübe, damit man sich für Verhandlungen mit Moskau öffnet. Fühlen Sie sich unter Druck gesetzt?
Nein. Es gibt keinen Druck von den USA. Wir arbeiten eng und vertrauensvoll zusammen. Unsere westlichen Freunde verstehen, worum es bei diesem Krieg geht. Es gibt keine Verhandlungen mit der Russischen Föderation. Das, was wir aus Moskau hören, ist kein "Verhandlungsangebot", sondern ein Angebot den Konflikt einzufrieren.
Einige würden sagen, den Konflikt einzufrieren wäre ein legitimes Ziel.
Einfrieren heißt aber, Russland gewinnt Zeit, um seine Armee zu modernisieren, die neuen Rekruten auszubilden und Verstärkung aus Belarus zu holen. Der Kreml will eine operative Pause, um mehr Gerät an die Front zu bringen und einen neuen Angriff vorzubereiten. Das Ziehen einer neuen Demarkationslinie würde doch den Konflikt nur verschlimmern. Russland wird sich als Sieger fühlen, ukrainische Infrastruktur weiter zerstören und den Druck auf Europa erhöhen, etwa durch Migration.
Sie waren bei den Gesprächen Ende März in Istanbul dabei. Damals gab es fast eine Einigung zwischen Kiew und Moskau. Entscheidend dafür war, dass man den Status der Krim ausgeklammert hatte. Ist das auch in einem künftigen Abkommen denkbar?
Die Krim-Frage aus irgendwelchen Verhandlungen in der Zukunft auszuklammern, ist mittlerweile völlig ausgeschlossen. Die Krim ist ukrainisch. Der damalige Vorschlag fand unter einer falschen Annahme statt. Wir dachten, wir wüssten, welche Art von Krieg Russland führt. Nach der Befreiung der Region Kiew, den Kriegsverbrechen in Butscha und anderswo haben wir gesehen, dass wir uns getäuscht hatten. Russland führt einen Vernichtungskrieg, einen terroristischen Krieg. Wenn die russische Armee unsere Energieversorgung zerstört, dann doch nur, um Millionen von Menschen maximalen Schaden zuzufügen. Der Krieg hat sich geändert und damit auch unsere Agenda.
Die russische Armee baut ihre Verteidigungslinien in den besetzten Gebieten aus: Schützengräben werden ausgehoben, Panzersperren errichtet, Bunker gebaut. Was steckt dahinter?
Tatsächlich entstehen gerade überall neue Befestigungen: am linken Ufer des Dnipro, in den Regionen Saporischschja und Luhansk sowie um Mariupol und auf der Krim. Sogar bei Belgorod, also in Russland, ziehen sie eine Verteidigungslinie hoch. Von dort aus werden sie womöglich eine neue Offensive auf Charkiw vorbereiten. Heute sind die Russen kaum in der Lage, offensive Operationen auszuführen. Ihre Einheiten aus den ersten Kriegstagen sind ausgeblutet. Aber sie werden sie mit neuen Soldaten auffüllen und einen neuen Angriff vorbereiten.
Wie reagiert die ukrainische Armee auf die neuen russischen Festungen?
Am Mittwoch gab es ein Treffen mit dem Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, zu genau dieser Frage. Unsere gemeinsame Schlussfolgerung war: Wir dürfen nicht aufhören zu kämpfen und müssen an unseren Angriffsplänen festhalten, auch im Winter. Wir müssen unsere Kräfte in alle Richtungen aktivieren: Saporischschja, Cherson, Luhansk. Dafür benötigen wir eine gewisse Menge an Raketen, Granaten und anderem Equipment. Aber die Priorität muss sein, die Russen daran zu hindern sich einzugraben. Die ukrainische Armee weiß das. Präsident Selenskyj weiß das.
Wie blickt man im ukrainischen Präsidentenbüro derzeit auf Deutschland?
Ich denke, es ist wichtig, dass die deutsche Regierung ihre Sicht auf die eigene Rolle in Europa geändert hat. Mein Eindruck ist, dass sich die Bundesregierung keine Illusionen mehr darüber macht, was das gegenwärtige Russland vorhat. Die Scholz-Regierung weiß mittlerweile, wie der Krieg enden sollte.
Und wie?
Mit einem Sieg der Ukraine. In Deutschland und Europa hat man verstanden, dass man den ukrainischen Sieg beschleunigen kann, indem man die Menge an gepanzertem Material für die Ukraine erhöht. Es ist fast wie eine mathematische Gleichung. Wir sehen, dass bei der deutschen Regierung ein Mentalitätswandel stattfindet und zunehmend verstanden wird, welche Art von Krieg hier passiert.
Woran machen Sie das fest?
An öffentlichen Statements und Äußerungen deutscher Minister hinter verschlossenen Türen. Deutschland hat begonnen, uns Raketenabwehrsysteme zu liefern. Darüber hinaus überdenkt die deutsche Regierung ihre Haltung zu neuen Waffenlieferungen. Das betrifft auch Leopard-2- und Marder-Panzer. Mit 200 modernen Kampf- und Schützenpanzern könnten wir unsere Gegenoffensiven an mehreren Frontabschnitten enorm beschleunigen.
Die Bundesregierung hat Ihnen die Lieferung von Leopard-2- und Marder-Panzern versprochen?
Wir haben noch kein festes Versprechen und noch keine Verträge unterschrieben. Aber wir rechnen bald mit einer Lieferung in dieser Größenordnung, sobald Berlin sieht, wie effektiv die Planungen des ukrainischen Generalstabs sind. Wir brauchen für unsere Operationen Nato-Waffen und nicht altes sowjetisches Gerät. Uns geht es auch darum, das Leben unserer Soldaten zu schützen. Den Krieg werden wir nur mit westlichen, auch deutschen, Waffen gewinnen.
Noch vor nicht allzu langer Zeit war Kiew eher schlecht auf die Deutschen zu sprechen.
Unsere Beziehungen haben sich verbessert. Deutschland hat zuletzt Charakter bewiesen. Wir hoffen, dass die deutsche Regierung bald ihre europäische Führungsrolle annimmt. Das Land hat einen entscheidenden Einfluss darauf, was in Europa passiert und wie stark die Ukraine unterstützt wird.
Konnte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei seinem Besuch Ende Oktober ein bisschen die Wogen glätten?
Ich war beeindruckt von Steinmeiers emotionaler Rede in Kiew. Er war bei uns und hat den Mut der Ukrainer mit eigenen Augen gesehen. Er stand mit uns gemeinsam im Luftschutzbunker, als Russland Raketen auf uns feuerte. Es war gut, dass er hier war.
Herr Podoljak, vielen Dank für das Gespräch.
- Interview mit Mychajlo Podoljak in Kiew.