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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Experte über Putins Atomdrohung "Derartige Eskalation seit Jahrzehnten nicht"
Pseudoreferenden, Annexion und Drohungen mit Atomwaffen: Wie wahrscheinlich ist ein Nuklearschlag Russlands und welche Szenarien gibt es? Ein Experte klärt auf.
Nach dem Ende der Scheinreferenden in vier besetzten Gebieten der Ukraine wird eine rasche Annexion durch Russland erwartet: International wird der Schritt massiv kritisiert und als Völkerrechtsbruch gewertet. Doch Wladimir Putin bleibt hart: Sollten anschließend jene "russischen" Gebiete angegriffen werden, droht er mit dem Einsatz aller verfügbarer Waffen, inklusive nuklearer.
Die USA haben auf diese Drohung mit einer Gegendrohung geantwortet: Sollte Russland Nuklearwaffen einsetzen, prophezeiten sie Putin "katastrophale Folgen". Wie wahrscheinlich ist ein atomares Desaster? Heinrich Brauß, Generalleutnant a.D. der Bundeswehr und ehemaliger Beigeordneter Generalsekretär der Nato, meint: Die Lage sei ernst, doch noch habe Russland beruhigenderweise keine Atomwaffen bewegt.
t-online: Herr Brauß, Putin droht indirekt mit Atomwaffen, sollte russisches Territorium, also auch das wahrscheinlich bald annektierte in der Ukraine, angegriffen werden. Wie nah ist ein Atomschlag?
Heinrich Brauß: Wenn Putin so vorgeht, ist dies ein abgefeimter Trick: Der russische Präsident kehrt die Rollen von Russland und der Ukraine im Krieg einfach willkürlich um. Er definiert implizit die Ukraine als Aggressor und Angreifer – nun – "russischer" Territorien, unterstützt vom "kollektiven Westen". Und Russland wird in dieser Logik plötzlich Verteidiger "seiner" Gebiete.
Putins Ankündigung, dass er im Falle einer Bedrohung der "territorialen Integrität" Russlands "von allen zur Verfügung stehenden Waffensystemen Gebrauch machen" würde, könnte zunächst heißen, dass Russland den Krieg mit konventionellen Mitteln ausweitet.
Wie das?
Etwa mit weitreichenden Flugkörpern und Bombenangriffen aus der Luft auch im Westen der Ukraine, mit massivem Beschuss von Städten, Versorgungseinrichtungen und kritischer Infrastruktur, die für die Lebensfähigkeit der Ukraine als Staat und Volk, aber auch für die Führung der Armee wesentlich ist. Eine weitere Möglichkeit wären chemische oder Nuklearwaffen.
Wie real schätzen Sie die Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes ein?
Da muss man fein differenzieren: Putins Drohung muss man ernst nehmen. Aber man darf auch nicht in Panik verfallen, denn darauf zielt Putin ab. Auch wenn einige russische Politiker immer wieder von einem Atomwaffeneinsatz reden, hat Putin selbst bisher nur indirekt gedroht. Er allein bestimmt über einen tatsächlichen Einsatz.
Und: Nuklearwaffen sind politische Waffen. Die Drohung mit ihrem Einsatz soll den Gegner erst einmal einschüchtern und entmutigen. Die Furcht in der Bevölkerung vor einem Einsatz ist die eigentliche Waffe. Putin will außerdem wohl die Ukraine von weiteren energischen Angriffen abhalten. Und er zielt auf die westlichen Regierungen, vermutlich um sie von der Lieferung weiterer schwerer Waffen an die Ukraine abzuhalten.
Militärexperte Heinrich Brauß
Heinrich Brauß, 69, ist Generalleutnant a.D. der Bundeswehr und war von 2013 bis 2018 Beigeordneter Generalsekretär der Nato für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung. In dieser Funktion war er für die strategische Ausrichtung der Allianz zuständig. Brauß arbeitet bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) zur Nato und europäischen Sicherheit.
Warum verfolgt der Kremlchef zurzeit diese Strategie?
Ich vermute, Russland muss Zeit gewinnen für die Auffrischung seiner Armee in der Ukraine. Dort hat sie massive Verluste erlitten. Es scheint, dass sie im Osten und Süden derzeit nicht mehr angriffsfähig ist. Im Gegenteil, sie steht stark unter Druck. Putins Truppen brauchen eine operative Pause, personellen und materiellen Ersatz und Verstärkung, deswegen die sogenannte Teilmobilisierung. Und jetzt stehen die Schlammperiode und der Winter bevor. Vermutlich will Russland im Frühjahr mit frischen Kräften einen weiteren Großangriff starten. Denn Putin wird nicht von seinem Kriegsziel ablassen, die Ukraine zu unterwerfen. Es ist aber fraglich, ob die Mobilisierung eine durchschlagende Wirkung hat.
Erwarten Sie, dass die Ukraine nun in den vier Gebieten militärisch zurückhaltender agiert, um die Situation zu entschärfen?
Davon gehe ich nicht aus. Die Ukrainer kämpfen um ihre Existenz. Sie haben nach wie vor einen starken Kampfeswillen. Und auch wenn man Putins Drohungen nicht abtun darf, kommt es darauf an, weiter fest zur Ukraine zu stehen und sie militärisch wirkungsvoll unterstützen.
Von was für atomaren Waffen sprechen wir derzeit genau? Oft ist die Rede von weniger verheerenden, taktischen Nuklearwaffen.
Das ist ein wichtiger Punkt, über den viel Verwirrung herrscht. Auch da muss man präzise sein. Das Wort "taktisch" suggeriert, dass man mit solchen Nuklearwaffen Krieg führen könne, weil ihre Sprengwirkung begrenzt sei. Das ist aber nicht der Fall. "Taktisch" sagen manche, weil es sich um Flugkörper kürzerer oder mittlerer Reichweite handelt, im Gegensatz zu den Interkontinentalraketen, über die Amerika und Russland verfügen. Aber der Gefechtskopf einer solchen taktischen Rakete hat eine ähnliche Sprengkraft wie die Bomben von Hiroshima und Nagasaki im Jahr 1945 – also von mehr als zehn Kilotonnen TNT – mit katastrophalen Auswirkungen. Nuklearwaffen haben also immer eine "strategische" Wirkung, weil sie den Charakter des Krieges fundamental verändern und die Folgen ihres Einsatzes kaum beherrschbar sind.
Wie schnell wären atomare Waffen einsetzbar?
Was beruhigend ist: Die Sprengköpfe sind von den Trägermitteln getrennt gelagert und laut Experten hat die westliche Aufklärung bisher keine Zusammenführung der einzelnen Waffenkomponenten gesehen, übrigens bei keiner der bisherigen Drohungen aus Moskau. Raketen, Flugkörper oder Flugzeuge, die solche Waffen tragen würden, wurden bisher, soweit ich weiß, auch nicht verlegt und keine Sprengköpfe montiert. Einen Nukleareinsatz führt man nicht überstürzt durch. Jeder Schritt will wegen des damit verbundenen Risikos genau überlegt sein. Auch Putin will die vollkommene Kontrolle über jeden einzelnen Schritt behalten. Auch um das Drohpotential schrittweise zu erhöhen, aber auch wieder zurücknehmen zu können. Es gibt keinen Automatismus.
Könnte Russland in den annektierten Gebieten atomare Waffen stationieren?
Das kann man nicht ausschließen. Es wäre eine weitere Eskalation, eine weitere Verstärkung der Drohung, vermutlich mit dem Ziel, die ukrainische Führung dazu zu veranlassen, ihre Gegenoffensive zur Befreiung der vier betroffenen Oblaste einzustellen. Das könnten zum Beispiel Kurzstreckenraketen vom Typ Iskander sein, die gleichwohl eine Reichweite von etwa 500 Kilometern haben und konventionelle oder Nuklearsprengköpfe tragen können. Andererseits muss Putin damit rechnen, dass die Verlegung dieser Raketensysteme beobachtet und diese dann sofort ein vorrangiges militärisches Ziel würden.
Was für Szenarien werden jetzt unter Experten durchgespielt? Ein Atomschlag mitten in der Ukraine?
Da gibt es mehrere Optionen. Einen Nukleareinsatz gegen einen Nato-Verbündeten schließe ich aus. Einen Krieg gegen die Nato kann Putin nicht gewinnen, das weiß er, und eine mögliche nukleare Eskalation würde Russland selbst sehr schwer, im äußersten Fall vernichtend treffen, das weiß er auch. Das Beschwören eines "nuklearen Weltkriegs", wie es einige Politiker und Kommentatoren vor allem in Deutschland tun, halte ich daher für abwegig. Dies spielt Putins Spiel mit der Angst in die Hände.
Einige Experten vermuten, dass Russland einen sogenannten demonstrativen Einsatz vorsehen könnte, beispielsweise über dem Schwarzen Meer, in vielleicht zwei Kilometern Höhe. Gewissermaßen als letzte Warnung an die Ukraine und den Westen. Und um das Einstellen der Gegenoffensive und des Unterstützens der Ukraine zu fordern. Auch wenn dies über unbewohntem Gebiet passieren würde, wäre es ein verbotener Einsatz. Deswegen würden die Amerikaner wahrscheinlich auch darauf reagieren.
Was könnten konkrete Reaktionen sein?
Das ist schwer zu sagen. Ein Grundsatz wirkungsvoller Abschreckung lautet: Klar sagen, dass man entschieden reagieren würde, aber wie genau, im Vagen lassen, um zu vermeiden, dass Putin das Risiko kalkuliert und möglicherweise in Kauf nimmt. Das nennt man strategische Ambiguität. Das tun die Amerikaner gerade. Die Antwort der USA muss dann nicht notwendigerweise nuklear sein. Ich könnte mir einen großflächigen Cyberangriff vorstellen, der die russische Führung, Verwaltung und Versorgung lähmen und die Armee führungs- und kampfunfähig machen könnte.
Einige Kommentatoren sprechen davon, dass die USA die russische Armee in der Ukraine aus der Luft massiv angreifen könnten. Dann müsste Putin aus seiner Sicht eskalieren und zöge damit die USA in den Krieg, den er dann nicht gewinnen könnte. Das Risiko wäre für ihn viel zu hoch. Aber hoffentlich kommt es zu alledem nicht, weil Putin die Warnung hoffentlich richtig versteht.
In welche Lage würde ein atomarer Angriff die Bundesregierung versetzen?
Ich scheue mich, darüber zu spekulieren, denn das wäre eine so eklatante Zuspitzung der Situation, wie wir sie nicht einmal im Kalten Krieg erlebt haben. Ich nehme an, die Staatschefs des Bündnisses würden sofort zusammengeschaltet. Der Nordatlantikrat würde unverzüglich auf hoher politischer Ebene zusammenkommen. Ebenso würden sich die nationalen militärischen Oberbefehlshaber der Verbündeten im Militärausschuss versammeln und beraten. Sie müssten ihre Regierungen beraten.
Der militärische Nato-Oberbefehlshaber, genannt Saceur, würde den Verbündeten seine Lageanalyse und Bewertung vortragen. Er würde ihnen eine Reihe von Optionen vorschlagen, wie die Nato reagieren könnte, einschließlich der damit verbundenen Risiken. Und dann müssten die Staatschefs gemeinsam entscheiden. Dabei ist klar: Über einen Nukleareinsatz der USA entscheidet nach Beratung der amerikanische Präsident allein. Aber ich betone noch einmal: An diesem Punkt sind wir nicht, und er tritt hoffentlich nicht ein.
- Telefongespräch mit Heinrich Brauß am 27.09.2022