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Ukraine | Jürgen Trittin: "Dafür zahlt Deutschland jetzt einen sehr hohen Preis"


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Jürgen Trittin
"Dafür zahlt Deutschland jetzt einen sehr hohen Preis"

InterviewVon Liesa Wölm

Aktualisiert am 18.09.2022Lesedauer: 6 Min.
Jürgen Trittin: Der Grünen-Politiker ist bekannter Atomkraftgegner.Vergrößern des Bildes
Jürgen Trittin: Der Grünen-Politiker ist bekannter Atomkraftgegner. (Quelle: imago-images-bilder)

Martin Schulz hat die Außenministerin scharf kritisiert. Grünen-Politiker Trittin will das nicht auf sich sitzen lassen – und nimmt die ehemalige Regierung ins Visier.

Die Grünen setzen sich dafür ein, die Atomkraftwerke in Deutschland auslaufen zu lassen. Zwei AKW sollen noch bis April 2023 am Netz bleiben, als Notfallreserve. Dann soll Schluss sein. Der außenpolitische Sprecher der Grünen, Jürgen Trittin, zeigt sich zuversichtlich, dass der Plan aufgeht.

Zugleich nimmt er Martin Schulz etwas übel: Der SPDler hatte insbesondere Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) kritisiert. Er sprach von einem moralischen Zeigefinger in der Außenpolitik und warnte davor, dass potenzielle Bündnispartner verprellt werden könnten. Trittin springt für seine Parteikollegin nun in die Bresche.

t-online: Die Lieferung von Schützen- und Kampfpanzern an die Ukraine sorgt in Deutschland immer noch für hitzige Debatten. Bundeskanzler Scholz (SPD) spricht sich weiterhin dagegen aus. Zu Recht?

Jürgen Trittin: Die Bundesregierung hat am Freitag erklärt, dass sie die Ukraine über den Ringtausch mit Panzern ausstatten wird. Wir liefern Marder an Griechenland und die Griechen liefern Geräte an die Ukraine, die unmittelbar einsatzfähig sind.

Aber die Ukraine fordert Leopard- und Marderpanzer im Kriegsgebiet.

Die Ukraine bekommt äquivalente Fahrzeuge sowjetischer Bauart über den Ringtausch über Griechenland, damit in Polen keine zusätzliche Logistik aufgebaut werden muss. Denn das ist dort ein Problem. Für die Panzerhaubitzen 2000 mussten wir lange Verhandlungen mit Polen führen, weil unser Nachbarland nicht bereit war, Deutschland die dafür notwendige logistische Unterstützung zu bieten. Das hat uns schon verwundert.

Deshalb ist es vernünftiger, den Weg des Ringtausches zu gehen. Die Waffen sind sofort einsatzbereit. Insbesondere nach der Rückeroberung von Gebieten ist klar geworden, dass es eines besseren Schutzes der ukrainischen Infanterie bedarf. Also liefern wir 50 Dingos aus den Beständen der Bundeswehr. Das zeigt: Wir sind und wir bleiben an der Seite der Ukraine.

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Der Ringtausch lief zu Beginn aber alles andere als vernünftig und auch die Bundestagsfraktion der Grünen kritisierte Verteidigungsministerin Lambrecht für ihre Verhandlungsführung. Andere westliche Partner mussten einspringen: War es nicht peinlich für die Bundesregierung, dass Deutschland Polens Panzerlücken nicht schließen konnte?

Das hätte besser laufen müssen, das ist klar. Nur ist die Darstellung der polnischen Seite aus deutscher Sicht nicht zutreffend. Am Ende aber zählt das Ergebnis. Es waren deutsche Haubitzen und Raketenwerfer, die die Ukraine neben den Lieferungen der USA besonders befähigt haben.

Vor welchen Herausforderungen steht die Ampelkoalition noch im Ukraine-Krieg?

Einerseits müssen wir die Ukraine mit Mitteln ausstatten, damit sie nicht überrannt werden kann und nicht gezwungen werden kann, etwas zu unterschreiben, was sie nicht unterschreiben will. Andererseits müssen wir durch eine Politik der Diversifizierung unserer Energiequellen, der deutlichen Reduktion unserer Nachfrage nach fossilen Rohstoffen, und gleichzeitig den Ausbau erneuerbarer Energien Deutschland unabhängiger und souveräner machen.

Jürgen Trittin (*1954) ist seit 1998 Mitglied des Bundestages. In der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder arbeitete er als Umweltminister und war anschließend unter anderem Fraktionschef und mit Katrin Göring-Eckardt bei der Bundestagswahl 2013 Spitzenkandidat der Grünen. Inzwischen ist er außenpolitischer Sprecher seiner Fraktion.

In Isjum wurden nach dem Abzug russischer Truppen Hunderte Gräber entdeckt, im Gebiet Charkiw wurden Folterkammern gefunden. Putins Brutalität scheint nicht zu enden. Doch was ist die Konsequenz?

Ich finde es wichtig, dass die Vereinten Nationen ihre Hilfe bei der Aufklärung angeboten haben. Diese Verbrechen werden nicht ungesühnt bleiben. Man kann in der Außenpolitik Werte nicht völlig beiseitelassen kann. Da unterscheide ich mich womöglich von Martin Schulz. Man kann nicht einfach sagen, es handelt sich hier um einen Konflikt, und dabei übersehen, dass elementarste Werte des Kriegsvölkerrechtes missachtet und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden durch die Art der russischen Kriegsführung.

SPD-Politiker Martin Schulz hat insbesondere den Stil von Außenministerin Baerbock kritisiert. Er sprach von einem moralischen Zeigefinger in der Außenpolitik und warnte davor, dass potenzielle Bündnispartner verprellt werden könnten.

Ich würde Martin Schulz an einen großen Sozialdemokraten erinnern, nämlich Gustav Heinemann: Der hat einmal gesagt: "Wenn man mit einem Finger auf einen zeigt, zeigen drei auf dich zurück." Gerade die Außenpolitik der Großen Koalition, also der vergangenen zwölf Jahre, war keine Außenpolitik, sondern vielmehr eine Außenhandelspolitik. Es war reine Industriepolitik, die absolut frei von Werten war, sowohl gegenüber Russland als auch China.


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Das hat uns in eine Abhängigkeit gebracht, für die Deutschland jetzt einen sehr hohen Preis bezahlt.


Jürgen Trittin


Mit welchen Folgen?

Das hat uns in eine Abhängigkeit gebracht, für die Deutschland jetzt einen sehr hohen Preis bezahlt. Die, die verantwortlich für diesen Preis sind, sollten eher auf die Einigkeit der Ampelkoalition achten, als mit dem Finger auf andere zu zeigen. Es ist eindeutig: Die Russland-Politik der Großen Koalition, die von SPD-Außenpolitikern mit betrieben worden ist, zeigt doch, dass eine wertefreie Außenpolitik einen hohen sicherheitspolitischen Preis hat. Deshalb ist eine wertegebundene Realpolitik, wie sie die jetzige Koalition mit dieser Außenministerin praktiziert, sehr vernünftig. Ich muss mich über Schulz‘ Äußerungen doch sehr wundern.

Was raten Sie ihm?

Vielleicht wäre es für Martin Schulz klüger, mal ein Gespräch mit Christine Lambrecht zu führen. Die ist nun gerade dabei, unsere Verlässlichkeit, insbesondere bei den Partnern im globalen Süden und in den Vereinten Nationen, zu untergraben. Sie nutzt jeden, auch den billigsten Vorwand, um den Bundeswehreinsatz in Mali in ein schlechtes Licht zu rücken. Das ist kein Ausweis von Verlässlichkeit gegenüber unseren Bündnispartnern. Es bestätigt das Bild, dass Deutschland der Rest der Welt egal ist.

Was erwarten Sie diesbezüglich von Ministerin Lambrecht?

Frau Lambrecht sollte verstehen, dass wir nicht mit der malischen Regierung eine Vereinbarung haben, sondern Teil einer UN-Mission sind. Es gibt keine deutschen Sonderwege.

Sie sprachen bereits über mehr Souveränität Deutschlands bei der Energieversorgung: Umweltministerin Lemke hat im t-online-Interview noch einmal unterstrichen, dass die Atomkraftwerke nicht längerfristig am Netz bleiben werden. Zwei Atomkraftwerke sollen aber für den Notfall bis April 2023 zur Verfügung stehen. Der Atomausstieg war allerdings zum Jahresende angesetzt.

Erst einmal bleibt der Atomausstieg im Gesetz. Aber wir haben das Problem, dass aufgrund einer verfehlten Energiepolitik im Süden Netzschwankungen durch zu wenig Angebot drohen. In Norddeutschland gibt es hingegen Gebiete, wo Netzschwankungen drohen, weil zu viel Strom im Netz ist. Im Stresstest werden selbst im übelsten Szenario im Norden Kraftwerke abgeschaltet, weil zu viel Strom im Netz ist. Also, ob wir tatsächlich die Reserve der zwei Kraftwerke aktivieren müssen, wird dann zu prüfen sein. Beim Stresstest geht es um die Worst Cases.

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Der Stresstest

Nach der Durchführung eines Stresstests wurde beschlossen, dass die beiden Atomkraftwerke Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg und Isar 2 in Bayern eine "Einsatzreserve bis Mitte April 2023" bilden sollen. Das dritte verbliebene Kraftwerk Emsland soll wie geplant zum 31. Dezember 2022 komplett abgeschaltet werden. Isar 2 und Neckarwestheim 2 sollen "in bestimmten Stresssituationen im Stromnetz einen zusätzlichen Beitrag zur im Stresstest identifizierten angespannten Versorgungs- und Netzsituation in Süddeutschland im Winter 2022/23 leisten" können, heißt es aus dem Wirtschaftsministerium.

Wie geht es nun also weiter?

Die Bundesnetzagentur und der Netzbetreiber müssen ab Dezember darlegen, ob die Annahmen des Stresstests tatsächlich eingetreten sind. Nur dann muss diese Reserve aktiviert werden, also wenn beispielsweise kein Gas mehr zur Verfügung steht für die Reservekraftwerke, die wir haben. Danach sieht es zurzeit nicht aus.

Wie sähen unterschiedliche Worst-Case-Szenarien aus?

Wenn tatsächlich überhaupt kein Wasser mehr fließt am Rhein oder Stauseen in den Alpen nicht zur Verfügung stehen, weil es überhaupt nicht mehr geregnet hat, muss über so etwas entschieden werden. Das bringt den Stresstest aus der Sphäre abstrakter Gedankenspiele zurück in die Wirklichkeit.

Welche Erkenntnisse hat der Stresstest gebracht, die Ihnen als Befürworter der Abschaltung der AKW, in die Karten spielen?

Es geht nicht um Kartenspielen, sondern um Versorgungssicherheit. Nach dem Stresstest wird der Großteil der Leistung, die wir erbringen müssen, um das Netz in Bayern und Württemberg zu stabilisieren, nicht durch Atomkraftwerke geliefert. Die liefern 0,5 Gigawatt zum Defizitausgleich und wir haben im zweitschlimmsten Fall eine Lücke von 4,6 Gigawatt, die wir zusätzlich brauchen – entweder durch Lastabschaltung oder durch andere Dinge, die dann gemacht werden müssen. Und auch darauf müssen die Netzagentur und die Netzbetreiber eine Antwort geben. Die Atomkraft wäre dann nur der kleinste Teil der Lösung.

Also müssen Sie nicht befürchten, dass die zwei Atomkraftwerke immer weiter verlängert werden?

Nein, das funktioniert nicht. Nach den zwei bis drei Monaten Reserve- oder Notfallbetrieb ist aus den Brennstäben in den zwei Atomkraftwerken ohnehin nichts mehr herauszuholen. Deshalb können die Atomkraftwerke nicht weiter betrieben werden.

Die FDP fordert aber genau das.

Die Beschaffung neuer Brennelemente setzt eine umfassende Änderung des Atomgesetzes voraus. Das wäre mit dem Koalitionsvertrag nicht zu vereinbaren.

Warum stellt die FDP dennoch die Forderung der Laufzeitverlängerung?

Das müssen Sie die FDP fragen. Sie hat verkannt, dass sie selber den Koalitionsvertrag mitgetragen und unterschrieben hat. Das Ende der deutschen Atomkraftwerke ist mehr als überfällig, weil wir das Grundproblem haben, dass wir zu viele Grundlastkraftwerke im Netz haben. Wir haben im vergangenen Jahr mehr als zwei Milliarden Euro dafür ausgegeben, um Kraftwerksbetreiber zu entschädigen, die wir wegen zu hoher Grundlast im Netz vom Netz nehmen mussten. Das hat vor allem Windparkbetreiber betroffen. Diesen Wahnsinn zu beenden, ist das eine. Aber auch der Konsens, der nach 30 Jahren Debatte über Energiepolitik in Deutschland gefunden worden ist, sollte nicht wegen kurzfristiger Maßnahmen infrage gestellt werden. Das scheint mir doch ein Gebot der politischen Klugheit zu sein.

Herr Trittin, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefoninterview mit Jürgen Trittin am 17. September 2022
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