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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ende des Ukraine-Krieges? Dann bleiben die Panzer im Matsch stecken
Russland und die Ukraine gewinnen in dem blutigen Krieg derzeit kaum an Boden. Nun ist es ein Kampf gegen die Zeit – denn im Herbst ändert sich alles.
Die Zeit wird knapp, denn der Winter naht. Die Ukraine erlebt derzeit einen blutigen Abnutzungskrieg. Weder die russische noch die ukrainische Armee können größere Geländegewinne erzielen, trotzdem gibt es besonders im Süden des Landes erbitterte Kämpfe mit massivem Artilleriebeschuss. Der Bombenhagel bringt erneut viel Leid und Zerstörung – vor allem für die ukrainische Zivilbevölkerung.
Während Russland im August langsam die Soldaten ausgehen und Moskau die Gewinne der vergangenen Monate konsolidieren möchte, zeigt die ukrainische Armee momentan nicht genügend Schlagkraft für eine breitflächige Offensive. Trotzdem wird die Ukraine nun versuchen, den Frontverlauf noch einmal zu verschieben – die kommenden zwei Monate könnten vorerst die letzte Chance dafür sein.
Im Herbst droht nicht nur ein erneuter Truppennachschub für die russische Armee, auch das schlechte Wetter wird zum Problem für Panzer und andere motorisierte Einheiten. Deswegen müssen Russland und die Ukraine spätestens Ende Herbst wahrscheinlich eine Zwangspause einlegen. Aber: Damit wird der Krieg nicht enden.
Russland spielt auf Zeit
Die Kämpfe in der Ukraine müssen nach Einschätzung des Präsidialamts in Kiew dringend noch vor Beginn der nächsten Heizperiode beendet werden. Ansonsten bestehe das Risiko, dass Russland die Infrastruktur für Wärme und Energie zerstöre, sagte der Stabschef von Präsident Wolodymyr Selenskyj, Andrij Jermak, nach Angaben der Agentur Interfax am Mittwoch in Kiew.
Die russische Armee greife jetzt schon Infrastruktureinrichtungen an. "Das ist einer der Gründe, warum wir maximale Maßnahmen ergreifen wollen, um den aktiven Teil des Kriegs bis Ende Herbst zu beenden", sagte Jermak. Der Krieg dauert inzwischen fast ein halbes Jahr.
Jermak sagte weiter, die ukrainische Armee versuche alles, um die von Russland besetzten Gebiete zurückzuerobern. Je länger sich russisches Militär auf ukrainischem Gebiet verschanzen könne, desto schwieriger werde es.
Aber bei dem Vorstoß der ukrainischen Führung geht es nicht nur um den Wintereinbruch und die drohende Kälte. "Im Gegensatz zu vielen westeuropäischen Bevölkerungen sind die Ukrainer kalte Winter gewöhnt und es ist davon auszugehen, dass sie die Jahreszeit auch in diesem Krieg durchstehen werden", sagt Carlo Masala, Militärexperte und Professor für internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München, im Gespräch mit t-online.
Trotzdem steht die Ukraine massiv unter Zeitdruck und ist auf ihre westlichen Partner angewiesen – denn es fehlt für eine große Gegenoffensive vor allem an Waffen und militärischem Gerät. Deshalb blieb offenbar die groß angekündigte Gegenoffensive der ukrainischen Armee aus, ihre Geländegewinne im Süden sind nur punktuell.
Dass die Ukraine nun im August und September Territorium zurückerobern möchte, ist aus mehreren Gründen nachvollziehbar:
- Präsident Wladimir Putin möchte weiterhin keine Teil- oder Generalmobilmachung ausrufen, denn die russische Armee befindet sich laut dem Narrativ des Kremls noch immer in einer "Spezialoperation". Wegen der zahlreichen Toten und Verletzten gehen Russland die Soldaten aus; erst im Herbst erhalten Wehrpflichtige Verträge, um Vertragssoldaten zu werden. Die Ukraine möchte die Chance nutzen, bevor neuer Nachschub eintrifft.
- Der Herbst bringt auch Regen. Das Gelände im Süden der Ukraine um Cherson ist sehr weitflächig und Panzer und andere motorisierte Einheiten könnten bei schlechter Wetterlage nur noch über Straßen vorrücken. Dadurch können Angriffe beider Seiten besser abgewehrt werden. Auch das Wetter wird also zum Gegner der Ukraine.
- Die Zeit läuft demnach für die russische Armee. Um mögliche Angriffe der Ukraine abzuwehren, ließ Moskau Brücken über den Fluss Dnipro sprengen. Das verfestigt aber den Frontverlauf auf beiden Seiten, denn russische Angriffe auf die andere Flussseite werden dadurch komplizierter.
- Die Ukraine rechnet damit, dass Russland zum Beispiel die Region Cherson mit einer fingierten Volksabstimmung im Herbst annektieren möchte. Das würde vieles ändern: Wenn diese Regionen aus russischer Perspektive zur Föderation gehören, würde bei Angriffen auch die russische Militärdoktrin greifen. Ein Atomschlag wäre möglich – die Ukraine möchte dieses Szenario verhindern.
Der Angriff auf die Krim war ein Wirkungstreffer
Zumindest das Momentum scheint außerdem auf der Seite der Ukraine zu sein. Der mutmaßliche Angriff der ukrainischen Armee auf Militärstützpunkte auf der Krim war ein Wirkungstreffer – aus mehreren Gründen.
Zunächst einmal ist es noch immer völlig unklar, welche Waffe die Explosionen auf der von Russland annektierten Halbinsel ausgelöst hat. Die Reichweite der amerikanischen Himars sei Experte Masala zufolge dafür nicht ausreichend. "Es ist wahrscheinlich, dass die Ukraine die russischen Stützpunkte auf der Krim mit Raketen aus eigener Produktion oder Drohnen angegriffen hat", so Masala. Die Ukraine halte sich bedeckt, denn die russische Armee werde so erst einmal Zeit benötigen, um die neue Bedrohung zu analysieren.
Militärisch sehen westliche Geheimdienste die Marineflieger der russischen Schwarzmeerflotte deutlich geschwächt. Mindestens acht Flugzeuge auf dem Militärflugplatz Saki seien zerstört oder beschädigt worden, hieß es in dem Geheimdienst-Update des britischen Verteidigungsministeriums am Freitag.
Das sei zwar nur ein kleiner Teil der Luftstreitkräfte, die Russland für die Invasion in die Ukraine zur Verfügung stehen, aber der Flugplatz sei vor allem zur Unterstützung der Flotte genutzt worden. Außerdem ist noch unklar, warum die russische Luftverteidigung nicht aktiv war und die Raketen somit nicht abfangen konnte.
Der Angriff wird aber vor allem Auswirkungen auf die russische Moral haben. Trotz Putins Propaganda wird auch für die Menschen in Russland immer deutlicher, dass das Land sich in einem Krieg befindet. Auf der Krim gilt nun der Notstand, aber zur Zeit der Explosionen machten viele Russinnen und Russen auf der Halbinsel Urlaub – während wenige Hundert Kilometer nördlich ein Krieg tobt. Nach den Explosionen mussten sie fliehen, teilweise kursierten Videos von traumatisierten Urlaubern in den sozialen Netzwerken. Sie kehren nun nach Russland zurück und ihre Flucht wird zum Sinnbild dafür werden, dass Putin selbst Probleme hat, die Krim zu schützen.
Wichtiger Kampf um Cherson
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj möchte den Vorfall auf der Krim dagegen nutzen, um ein Zeichen zu setzen: Die Ukraine hat die Halbinsel nicht aufgegeben und möchte sie zurückerobern. Experte Masala meint allerdings: "Es ist gegenwärtig unrealistisch, dass die ukrainische Armee die Krim zurückerobern könnte." Die Halbinsel sei strategisch einfach zu verteidigen und dort stünden eine Vielzahl russischer Truppen.
Bis zum Herbst – oder bis das Wetter schlechter wird – ist es wohl eher das ukrainische Ziel, möglichst viele Gebiete um Cherson zurückzuerobern. Die Region gilt auch als Tor beziehungsweise als Zugang zur wichtigen ukrainischen Hafenstadt Odessa. Wenn es Russland gelingen würde, im Laufe des Krieges die Ukraine vom Schwarzen Meer abzuschotten, könnte der Rest des Landes mutmaßlich wirtschaftlich kaum überleben.
Sollte es der Ukraine dagegen gelingen, Cherson als wichtigen russischen Brückenkopf über den Dnipro doch zurückzuerobern, wäre die Versorgung der Krim in Gefahr. Die Wichtigkeit der Region ist der Grund, warum beide Seiten so viele Truppen in den Süden verlegt haben. In Anbetracht der schwindenden Zeit bis Herbst ist es wahrscheinlich, dass sich die Kämpfe dort weiter massiv verschärfen werden.
Ein Schrecken ohne Ende
Dennoch führt das gegenwärtige Kräftegleichgewicht dazu, dass es in den kommenden zwei Monaten nur noch zu punktuellen Frontverschiebungen kommt. Aber auch Herbst und Winter werden mutmaßlich nicht das Ende des blutigen Krieges bringen. "Der Krieg wird wahrscheinlich noch mindestens bis Mitte des nächsten Jahres andauern", sagt Masala. "Aber im Winter werden beide Seiten zwangsweise eine operative Pause einlegen müssen, denn durch das Wetter würden motorisierte Einheiten im Matsch stecken bleiben."
Eine operative Zwangspause würde dazu führen, dass Russland und die Ukraine in dieser Zeit erneut ihre Truppen stärken. Das wird mutmaßlich nicht nur das Durchhaltevermögen der Ukraine auf die Probe stellen, sondern auch den Atem des Westens bei der militärischen Unterstützung des Landes. Denn Inflation und Energiekrise bedrohen den Wohlstand vieler Menschen in Europa – spätestens im Winter wird das zu erneuten gesellschaftlichen Diskussionen führen.
"Es ist nicht besonders schlüssig"
Damit sich die Ukraine tatsächlich auf das anschließende Frühjahr vorbereiten kann, benötigt sie vor allem auch Schützen- und Kampfpanzer, denn die Verluste an schwerem militärischen Gerät ist auf beiden Seiten massiv – und es gibt nicht mehr viele Panzer sowjetischer Bauart, die der Westen liefern könnte. Die Nato schiebt die Frage, ob modernere Schützen- und Kampfpanzer geliefert werden sollen, weiter vor sich her und somit können auch ukrainische Kräfte nicht an westlichen Panzern ausgebildet werden.
"Im westlichen Bündnis steuern wir wohl auf eine neue Debatte über Panzerlieferungen an die Ukraine zu, da die ukrainische Armee natürlich auch viele motorisierte Kräfte verliert", erklärt Masala t-online. "Es ist nicht besonders schlüssig, warum wir einerseits den Gepard oder die Panzerhaubitze liefern können, Schützenpanzer wie zum Beispiel den Marder dagegen nicht."
Letztlich droht demnach im kommenden Kriegsherbst und -winter ein Geduldspiel, für die Ukraine und für den Westen. Anzeichen für eine Verhandlungslösung gibt es nicht, aber ob Putin sich gesprächsbereit zeigen wird, hängt natürlich auch von der wirtschaftlichen Stabilität Russlands ab. Wenn der Kreml also neue Abnehmer für seine Rohstoffe findet, steigt auch die Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Krieg weitergehen wird. Ein Ende des Schreckens ist nicht in Sicht.
- Eigene Recherche
- Gespräch mit Militärexperte Carlo Masala