Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Die Wahrheit kommt ans Licht
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
früher war vieles besser, eines aber nicht: Wir waren dümmer. Viel dümmer. Was hätten unsere Ahnen dafür gegeben, sich binnen Minuten über das Geschehen auf dem ganzen Globus informieren zu können! Konnten sie aber nicht, weil sie kein weltumspannendes Netzwerk besaßen, das alle mit allem und jeden mit jedem verbindet.
Gott sei Dank haben wir heute das Internet! So wissen wir immer Bescheid. Bescheidwisser sind heutzutage allerorten gefragt. Die klicken hierhin und dorthin, bekommen Nachrichten und leiten sie weiter, stöbern Informationsschnipsel in den hintersten Ecken des World Wide Web auf und können endlich tun, was unseren Vorfahren nie gelang: das Verborgene hinter den Kulissen erspähen, in die Hinterzimmer der Macht blicken, Geheimnisse und Tricksereien entlarven, den großen Plan aufdecken, der allen Entscheidungen von Politikern, Wirtschaftsbossen und sonstigen Oberchefs zugrunde liegt.
Besonders wertvolle Informationen liefern YouTube, Facebook, Twitter und natürlich WhatsApp, seit einiger Zeit vor allem Telegram – eine wahre Schatzgrube! Dort erfährt man beispielsweise, dass die Behörden auf Sylt das Silvesterfeuerwerk abschaffen wollten, um die Gefühle arabischer Flüchtlinge nicht zu verletzen. Unerhört! Man bekommt mitgeteilt, dass die Europäische Union das deutsche Vollkornbrot verbieten will, um einheitliche Brotstandards durchzusetzen. Ein Angriff auf unsere Freiheit! Man stößt auf eine Meldung, wonach der Bundestag in einer Nacht- und Nebelsitzung beschlossen hat, Deutsch als Amtssprache abzuschaffen und durch Englisch zu ersetzen. Wahnsinn! Und das sind nur drei Beispiele von vielen, vielen mehr. Klick, klick, klick: Überall böse Machenschaften!
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Erschöpft von der Dauerempörung sinken wir aufs Sofa. Das Internet ist eine Fundgrube verborgener Wahrheiten, und während wir uns von einer zur nächsten klicken, spüren wir im Hinterkopf einen leisen Zweifel nagen: Stimmt das alles überhaupt? Hat doch die Freundin von der Nachbarin geteilt! Der Onkel hat es gelikt, und der Freund vom Dings hat einen Kommentar druntergesetzt. Dann muss es doch stimmen … oder?
Die Zweifel wachsen – aber nur bei jenen, deren kritisches Bewusstsein noch halbwegs intakt ist. Weil heutzutage ein Klick genügt, um von den Fjorden Norwegens bis zu den Sanddünen der Sahara zu reisen, scheint es so, als hätten wir die ultimative Informationsfreiheit erreicht. Leider lauern auf unseren digitalen Reiserouten überall Wegelagerer, die uns ein X für ein U vormachen. Wahrheit und Lüge voneinander zu unterscheiden, ist im Nachrichtengewitter oft kaum noch möglich.
Fake News, gezielt gestreute Falschnachrichten, sind zu einer Bedrohung für unsere Demokratie geworden. Sage nicht nur ich als dauerdigitalisierender Newsletter-Autor, sagen auch Kolonnen von Wissenschaftlern und Lehrern, von Politikern ganz zu schweigen. Rund ein Viertel aller Erwachsenen neigt dazu, Falschnachrichten zu verbreiten, hat eine Studie herausgefunden.
Unbeschreibliches Unheil können Fake News anrichten. Sie vernebeln den Verstand und bringen Leute auf dumme Gedanken. Sie schüren Misstrauen und Vorurteile gegen Mitmenschen. Sie füttern den Hass, der in vielen Hirnen lebt, und dirigieren die Soldatenstiefel, unter denen die Erde bebt. Sie stacheln Menschenmassen auf, die dann wütend Extremisten wählen, Parlamente stürmen oder gar zu Massenmördern werden.
So schlimm ist es hierzulande zum Glück noch nicht gekommen (wobei wir die Betonung auf noch legen müssen). Aber die täglichen Giftspritzen aus den angeblich sozialen Medien machen auch unsere Gesellschaft krank. So viele Gerüchte, Halbwahrheiten und Lügen schwappen durchs Internet, so geschickt sind sie als vermeintlich seriöse Nachrichten getarnt, dass man sich ihrer selbst als vernünftiger Zeitgenosse kaum erwehren kann. Aggressive Staaten wie Russland und China beschäftigen Heerscharen von digitalen Aufwieglern, um via Facebook, TikTok und Co. demokratische Gesellschaften zu zermürben.
Die wechselnden Bundesregierungen haben sich nie ernsthaft mit dem Thema befasst und den Schwarzen Peter lieber nach Brüssel geschoben. Dort hat das Europäische Parlament einige scharfe Regeln gegen Fake News erlassen und die Digitalkonzerne unter Druck gesetzt, ihre Content-Gülle genauer zu kontrollieren. Das ändert jedoch nichts daran, dass das Internet nach wie vor voll von dem Schund ist.
Fake News sind wie der Wolf im Schafspelz: Man erkennt sie nicht sofort – aber wenn sie zuschnappen, reißen sie tiefe Wunden. Sie spielen mit unseren Ängsten, Hoffnungen und Vorurteilen. Und bevor man die Lüge erkennt, hat man schon die "Nachricht" geteilt, dass Olaf Scholz/George Soros/Helene Fischer (die Namen sind austauschbar) mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj einen Plan zur Unterwerfung Russlands geschmiedet hat. Der arme Putin! So ist das nämlich. Oder so ähnlich. Oder vielleicht auch nicht. Oder wie oder was?
Fake News sind eine Pest, die schon viel zu lang von der vernünftigen Mehrheitsbevölkerung toleriert wird. In einer Zeit, in der Rechtsextremisten mit Konservativen Deportationspläne aushecken, in der Amerika drauf und dran ist, einen Demokratiezerstörer ins höchste Staatsamt zurückzubefördern und Europa sich für den nächsten russischen Angriffskrieg wappnen muss, braucht es Stoppschilder, die größer sind als ein paar EU-Gesetze.
Diese Stoppschilder sehen Sie ab heute vielerorts im Internet und im öffentlichen Raum: Auf der Website von t-online und auf den digitalen Informationsportalen in Bahnhöfen, Innenstädten und Einkaufszentren startet eine Aufklärungskampagne gegen Fake News. Das Projekt "Forum gegen Fakes – Gemeinsam für eine starke Demokratie" setzt sich zum Ziel, eine bundesweite Debatte zum Umgang mit Desinformation anzustoßen. Möglichst viele Bürger sollen Vorschläge beisteuern und mitdiskutieren, wie sich der aufrichtige gesellschaftliche Dialog stärken lässt. Online kann sich jeder einbringen; die gesammelten Vorschläge werden von einem Bürgerrat diskutiert und dem Bundesinnenministerium vorgelegt. Initiator des Projekts ist die Bertelsmann Stiftung, wir von t-online unterstützen sie (hier erfahren Sie mehr).
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Ich wünsche mir eine große Beteiligung. Vielleicht verstehen dann mehr Menschen, dass nicht jede Schlagzeile der Wahrheit entspricht, nur weil sie irgendwo im Internet steht. Dass man Quellen überprüfen sollte, bevor man Informationen teilt. Dass nach Qualitätsstandards arbeitende Journalisten mehr Glaubwürdigkeit besitzen als irgendwelche Influencer und Social-Media-Heinis. Und dass man verschiedene seriöse Medien konsumieren sollte, um sich sein eigenes Bild zu machen. Auch eine Prise Humor schadet nicht angesichts all der Empörung, die täglich durchs Netz wabert. Wenn Sie also das nächste Mal eine Nachricht lesen, die zu verrückt klingt, um wahr zu sein, handelt es sich vermutlich um die digitale Version des Loch-Ness-Monsters Nessie: viel gesehen, aber nie wirklich da.
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Duell in Amerika
Nur noch eine einzige Frau versucht, Donald Trump die Kandidatur der US-Republikaner streitig zu machen: Im Kampf um die Präsidentschaft wurden Nikki Haley lange keine Chancen eingeräumt – nun versuchte sie bei den Vorwahlen in New Hampshire, die "Trump-Walze" noch zu stoppen. Doch es reichte nicht: Nach übereinstimmenden Prognosen der wichtigsten US-Medien hat Trump die Abstimmung gewonnen. Mehr zur Schicksalswahl in Amerika berichten wir Ihnen in einer Sonderausgabe des Tagesanbruchs heute Abend.
Heikler Besuch
Sehr deutlich mahnt Olaf Scholz die EU-Partner, ihr Ukraine-Engagement zu verstärken. Heute bekommt der Kanzler Besuch von einem, dem er besonders eindringlich ins Gewissen reden muss: Der slowakische Ministerpräsident Robert Fico ist seit Oktober zum dritten Mal Regierungschef in Bratislava. Zwar unterstützte der kleine Nachbarstaat der Ukraine das von Russland angegriffene Land unter der Vorgängerregierung großzügig. Doch der Populist Fico hat die Waffen- und Munitionslieferungen gekappt und schwadroniert davon, mit dem Krieg "nichts zu tun" zu haben. Auch Sanktionen gegen Moskau hält der Kumpel des ungarischen Autokraten Viktor Orbán für falsch und spricht der Ukraine die Souveränität ab. Zugleich gilt er aber als Pragmatiker. Vielleicht sind ihm die Fördertöpfe der EU am Ende doch wichtiger als sein Gepolter.
Nichts geht mehr
Seit Wochen protestieren die Bauern, ab heute legt die Lokführergewerkschaft wieder den Bahnverkehr lahm – ja, geht denn in Deutschland gar nichts mehr? Wen solche Gedanken beschleichen, der mag den Blick über den Tellerrand werfen, um die Dinge ein wenig zu relativieren. In Frankreich etwa sind die Landwirte ebenfalls wütend, machen mobil gegen steigende Energiekosten und schwindende Einkommen. An einem Blockadeposten bei Toulouse gab es sogar ein Todesopfer zu beklagen.
Noch dramatischer ist die Lage in Argentinien: Nach nur einem Monat im Amt sieht sich der ultralibertäre Präsident Javier Milei heute mit einem Generalstreik konfrontiert. Aus Protest gegen seine radikalen Wirtschaftsreformen will die größte Gewerkschaft das Land lahmlegen. Die Inflationsrate liegt bei horrenden 200 Prozent; 40 Prozent der Bevölkerung leben in Armut. Im Vergleich dazu geht es uns doch wirklich blendend.
Ohrenschmaus
Frank Farian ist tot. Deutschlands erfolgreichster Musikproduzent war kein einfacher Mensch. Aber ein genialer Arrangeur. Wir danken für zeitlose Hits wie diesen!
Lesetipps
Donald Trump kommt seinem Ziel einer zweiten Amtszeit immer näher. Und wir alle dem Albtraum KI-generierter Lügen. Was uns droht, erläutert Ihnen unsere Kolumnistin Nicole Diekmann.
Als Chefredakteur mehrerer Zeitungen beobachtet unser Kolumnist Uwe Vorkötter die Bundespolitik seit Jahrzehnten. Was er über die Ampelregierung schreibt, klingt nicht gut.
Jedes Jahr unternehmen 20 Millionen Menschen eine Kreuzfahrt. Warum das ein großes Problem ist, erklärt der Tourismusprofessor Stefan Gössling im Gespräch mit meiner Kollegin Sandra Simonsen.
Zum Schluss
Der Bahnstreik hat auch seine guten Seiten.
Ich wünsche Ihnen einen harmonischen Tag und melde mich heute Abend mit einer Sonderausgabe zur US-Wahl wieder bei Ihnen.
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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Anmerkung: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, die Ergebnisse des Bürgerrats zu Fake News würden dem Deutschen Bundestag vorgelegt. Tatsächlich werden sie aber dem Bundesministerium des Inneren übermittelt. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.