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Hiobsbotschaft: Lassen USA, Deutschland und Co. die Ukraine im Stich?


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Tagesanbruch
Eine Hiobsbotschaft für die Ukraine

  • Daniel Mützel
MeinungVon Daniel Mützel

Aktualisiert am 23.01.2024Lesedauer: 7 Min.
Russische D-30-Haubitze feuert ein Geschoss ab: Die Winteroffensive der Invasionstruppen setzt die Ukraine unter Druck.Vergrößern des Bildes
Russische D-30-Haubitze feuert ein Geschoss ab: Die Winteroffensive der Invasionstruppen setzt die Ukraine unter Druck. (Quelle: Stanislav Krasilnikov/Tass/imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

es gehört zu den Gesetzmäßigkeiten unseres Bewusstseins, dass wir sich ständig wiederholende Reize aus unserer Umwelt irgendwann nicht mehr wahrnehmen. Wir sehen nacheinander fünf Clowns durch die Fußgängerzone hampeln, der sechste interessiert uns schon nicht mehr. Das Gehirn lässt das Signal "Clown", das die Augen nach hinten melden, einfach nicht mehr zum Bewusstsein durch. Es gibt Wichtigeres zu bedenken.

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Das gilt umso mehr für schlechte Nachrichten. Ab einem bestimmten Punkt schalten wir auf Durchzug. Wenn die Macht der Gewohnheit sich mit der Macht der Verdrängung verbindet, wird auf Hochtouren aussortiert: Dinge, die uns gestern noch existenziell betrafen, rangieren heute unter ferner liefen.

Nun sind wir düstere Schlagzeilen aus der Ukraine seit ein paar Monaten gewohnt. Mit dem gescheiterten Gegenstoß der Ukrainer 2023 hat der Kreml wieder die Initiative übernommen. Die Winteroffensive der Russen setzt Kiew stark unter Druck und verschleißt die knapper werdenden ukrainischen Reserven.

Die Ukraine stemmt sich mit aller Macht dagegen und versucht, an mehreren Stellen Front-Durchbrüche der Russen zu verhindern. Aber, so sagte der Politologe Herfried Münkler neulich: Sie wehrt sich mit "einem Arm auf dem Rücken gebunden". Gemeint war das vom Westen auferlegte Verbot, dass die Ukraine keine Militärbasen in Russland angreifen dürfe, von denen aus sie beschossen wird.

Auch jenseits solcher operativen Tabus kämpft Kiew seit zwei Jahren mit einem Handicap: Der Angreifer mobilisiert nach innenpolitischem Belieben Ressourcen, während der Angegriffene stets aufs Neue Nachschub bei seinen westlichen Partnern erbetteln muss, um nicht unterzugehen.

Das klappt mal besser und mal schlechter. Aktuell klappt es überhaupt nicht. Hält das Zögern des Westens an, könnte der ukrainischen Armee eine Katastrophe drohen.

Video | Russland rückt vor: So ist die Lage an der Front
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Quelle: t-online

Wie dünn die Luft für die ukrainischen Truppen gerade wird, zeigt eine Geheimrunde zur Ukraine-Unterstützung, die kürzlich im Weißen Haus stattfand. Wie der US-Sender NBC berichtet, informierten zwei Spitzenberater von Präsident Joe Biden die anwesenden Republikaner, dass Russland "den Krieg binnen Wochen" oder Monaten gewinnen könnte, sollte der Kongress ein neues Waffenpaket weiter blockieren.

Demnach blieben der Ukraine nur noch wenige Wochen, bevor kritische Ressourcen bei der Artillerie und der Luftverteidigung erschöpft sind – mit drastischen Folgen für die Dynamik auf dem Schlachtfeld.

Eine taktische Drohung, um den Widerstand der Republikaner zu brechen? Vielleicht. Doch dass die Ukraine seit einer Weile Munition rationieren muss, um überhaupt noch kampffähig zu bleiben, ist kein Geheimnis. Während die Russen Schätzungen zufolge rund 10.000 Granaten pro Tag abfeuern, können sich die Angegriffenen mit gerade mal 2.000 Schuss wehren. In manchen Gefechtszonen beträgt das Verhältnis gar 9:1 zugunsten Russlands.

Der Munitionsmangel lässt die Front wackeln: Wie die "Washington Post" berichtet, mussten Im Süden von Saporischschja ukrainische Verbände wegen fehlenden Nachschubs Angriffe abblasen, im Donbass können manche Verteidigungslinien nur mit größter Not gehalten werden.

Der radikale "America-First"-Flügel der Republikaner nimmt die Ukraine immer skrupelloser in Geiselhaft, um innenpolitisch zu punkten. Doch es wäre bequem, das momentane Versagen des Westens alleine den USA anzulasten.

Auch die EU hat Lieferzusagen gerissen. Von der versprochenen Million Artilleriegranaten bis März haben die Europäer nur rund 300.000 geliefert. Und weil Versprechen nichts kosten, hat Brüssel gerade die Frist bis Ende des Jahres verlängert. Bis dahin werden viele weitere ukrainische Soldaten im russischen Granathagel sterben.

Die europäische Sicherheitsarchitektur liegt in Trümmern. Die Ukraine wehrt sich mit fast erschöpften Arsenalen und unter hohem Blutzoll gegen eine unersättliche russische Feuerwalze. Es ist beschämend, dass Europa nach zwei Jahren Krieg und mit einem Bruttoinlandsprodukt von 16 Billionen Euro nicht in der Lage ist, seine Industrie so umzumodeln, dass es mit einer 1,7-Billionen-Wirtschaft mithalten kann.

Russland hat nur ein Zehntel der Wirtschaftsleistung Europas und lediglich ein Fünftzehntel der USA – aber im industriepolitischen Wettrüsten, zu dem der Ukraine-Krieg geworden ist, kann der Kreml bei den Großen mitspielen. Sollte die freie Ukraine zerfallen, weil der Westen nicht fähig war, seine Industrie auf Vordermann zu bringen, wäre das ein Scheitern historischen Ausmaßes.

Vielleicht liegt es an einer zynischen Strategie, wie immer mehr Beobachter meinen: dass der Westen insgeheim daran arbeite, das Verhältnis zu Russland zu normalisieren. Demnach würde die Nato der Ukraine nur so viel geben, dass diese überlebe, aber eben nicht das, was sie für einen Sieg bräuchte.

Vielleicht liegt es aber auch an einem ganz anderen, theoretisch lösbaren Problem: den noch immer viel zu langsam mahlenden Mühlen der europäischen Rüstungsbeschaffung.

Das gilt ganz besonders für Deutschland. Dass der Kanzler in Fliegerjacke bei Airbus die deutsche "Verteidigungswirtschaft" lobt (unter Vermeidung des sozialdemokratisch unverträglichen Begriffs der Rüstungsindustrie), mag rhetorisch einen Kurswechsel andeuten. Der nötige Quantensprung ist das nicht.

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Abseits solcher PR-Termine steckt das deutsche Beschaffungswesen noch immer in der Vorkriegsära, also vor dem Februar 2022. Dass die Ukraine-Abgaben zunehmend gegen den Eigenbedarf der Bundeswehr ausgespielt werden – wie zuletzt bei der Taurus-Debatte –, lässt sich auf die fehlenden Produktionskapazitäten hierzulande zurückführen. Doch warum ist das so? Warum ist Deutschland nicht in der Lage, zügig nachzubestellen?

Die Probleme sind zahlreich, viele davon hausgemacht:

  • Zentrales Problem ist die überbordende Bürokratie: Deutschland übertrifft den Paragrafendschungel der EU, die auf europäische Auftragsvergabe pocht, noch mit zusätzlichen Vorschriften. Manche Aufträge können seit 2022 mit Verweis auf deutsche Sicherheitsinteressen auch mal schneller vergeben werden, aber noch immer gelten europäische Ausschreibungen als Bremsklotz.
  • Ein aufgeblähtes, von 3.000 Beamten verwaltetes Verteidigungsministerium, das viel zu viele Stellen an Beschaffungsaufträge beteiligt.
  • Beamte im Koblenzer Beschaffungsamt (BAAINBw), die eher an der juristischen Korrektheit des Verfahrens interessiert sind als an einem schnellen Vertragsabschluss. Eine Folge des bürokratischen Selbsterhaltungstriebs und der Angst, von Rüstungskonzernen verklagt zu werden.
  • Die Abhängigkeit von Roh- und Grundstoffen (etwa Baumwolle für Artilleriegranaten), die meist aus China kommen und nicht in endlosen Beständen geliefert werden.
  • Kommunale Interessen, die sich gegen die Ansiedlung neuer Rüstungswerke stellen, wie in Troisdorf in NRW oder im sächsischen Großenhain, wo Bürgerproteste ein neues Pulverwerk von Rheinmetall verhinderten.

Auch das Parlament könnte Weichen stellen. Experten weisen seit Längerem darauf hin, dass die 25-Millionen-Euro-Vorlagen (jeder Rüstungsauftrag über 25 Millionen Euro muss vom Haushaltsausschuss abgenommen werden) unnötig Zeit kosten oder zumindest auf 50 oder 100 Millionen erhöht werden sollten. Auch der wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums empfahl vergangenen Sommer, die "Parlamentsschleife" zu entschlacken, um nicht jeden kleinen Auftrag den Abgeordneten zur Prüfung vorzulegen.

Doch die Empfehlungen der Habeck-Berater wurden von den Mitgliedern des mächtigen Haushaltsausschusses abgelehnt. Es ist die Krux einer aufgeblähten Bürokratie: Sie zurückzubauen, bedeutet nicht nur Paragrafen zu löschen, sondern auch Menschen zu entmachten, die über diese Paragrafen wachen. Niemand verliert gerne Einfluss. So bleibt alles beim Alten.

Immerhin ein Mann hat dem Bürokratiesumpf im Militärwesen den Kampf angesagt: Verteidigungsminister und SPD-Kanzlerkandidat der Herzen, Boris Pistorius. Der Minister setzt vor allem auf schneidige Auftritte, um zu belegen, dass die Zeitenwende in der Rüstungsbeschaffung – dank ihm – nun endlich im Gange ist. "Wir geben richtig Gas", erklärte Pistorius im Stakkato am Sonntagabend im ZDF-"heute journal".

Pistorius verwies auf den (seinen) Rekord an 25-Millionen-Euro-Vorlagen, die 2023 durch den Haushaltsausschuss gepeitscht wurden, und versprach einen weiteren für das laufende Jahr. Ob das so kommt, muss sich zeigen. Pistorius steht weiterhin in der Bringschuld, nicht nur gut zu reden, sondern auch zu liefern.

Das weiß er und wirkt daher manchmal ungeduldig. Der Minister muss aufpassen, sich nicht auf das destruktive "Blame Game" einzulassen, das im Beschaffungswesen eine gewisse Tradition hat: Schuld sind immer die anderen. Im selben Interview sagte Pistorius nämlich: "Gleichzeitig gehört dazu, sich einzugestehen: Wir können schneller bestellen, aber der zweite Schritt ist: Die Industrie muss schneller produzieren."

Vor einem TV-Publikum lässt sich damit politisch vielleicht kurzfristig punkten. Aber den Rüstungsfirmen die Schuld für die fehlenden Produktionskapazitäten zuzuschieben, ist zu einfach. Denn weder hat Pistorius seine Etaterhöhung von zehn Milliarden Euro bei Christian Lindner durchsetzen können noch hat er eine Antwort parat, wie die Bundeswehr nach dem Auslaufen des Sondervermögens weiterfinanziert wird.

Aber das genau braucht die Industrie, um ihre Produktion auszuweiten – Planungssicherheit. Von den Abnahmegarantien, die der Bund den Unternehmen weiterhin versagt, ganz zu schweigen.

All das nützt der Ukraine in den nächsten Wochen und Monaten natürlich gar nichts. Um ein Schreckenszenario zu verhindern, kommt es, wie seit Beginn der Invasion, vor allem auf die Amerikaner an. Das 60-Milliarden-Paket, das kommt oder nicht kommt, könnte Europa nicht ersetzen und Deutschland schon gar nicht.

Zu lange wurde geschlafen, verzögert, ausgeblendet. Sollte im Herbst der neue US-Präsident Donald Trump heißen, könnte in Deutschland eine zweite Zeitenwende vonnöten sein. Vielleicht endet dann die deutsche Behäbigkeit.


Was steht an?

"Jetzt sind noch ein Typ und eine Lady übrig", kommentierte die Trump-Gegenspielerin Nikki Haley das Ausscheiden von Ron DeSantis aus dem Rennen um die republikanische Präsidentschaftskandidatur. Eine Lady – sie – und ein Typ: Donald Trump. Der Ex-Präsident führt in Umfragen zweistellig vor Haley in New Hampshire, wo am Dienstag die nächste republikanische Vorwahl stattfindet. Unser USA-Korrespondent Bastian Brauns hat es in Trumps Wahlkampf-Hauptquartier in Manchester geschafft und die Mobilisierung der letzten 24 Stunden beobachtet. Seine Reportage lesen Sie hier.

Doch Haleys "Theorie des Sieges" reicht weiter als nur bis New Hampshire: In dem Bundesstaat braucht sie keinen Triumph, sondern muss nur so nah wie möglich an Trump herankommen. Um dann bei der nächsten Vorwahl – in ihrem Heimatbundesstaat South Carolina – ordentlich zu punkten. Allerdings sehen auch dort die Umfragen für sie nicht gerade rosig aus. Eine Einordnung dazu von Bastian lesen Sie hier.


Das Gesetz der Schiene: Was auf Deutschlands Gleisen passiert oder eben nicht, bestimmt derzeit vor allem ein Mann: Claus Weselsky. Der Chef der Lokführergewerkschaft GDL hat erneut zum Streik aufgerufen: Ab Dienstag 18 Uhr sollen Beschäftigte im Güterverkehr die Arbeit aussetzen, ab Mittwochmorgen um 2 Uhr folgt der Personenverkehr. Sechs Tage soll der Ausstand dauern. Damit steht die Deutsche Bahn vor dem längsten Streik ihrer Geschichte.


Lesetipps

Ab jetzt kein Streit mehr? Von wegen. In der Ampelkoalition geht es weiter hoch her. Auslöser dieses Mal sind die drei K-Fragen: Kindergeld, Kinderfreibetrag und Kindergrundsicherung. Ein Bericht meiner Kollegen Johannes Bebermeier, Sara Sievert und Florian Schmidt.


Er will Millionen Menschen aus Deutschland vertreiben lassen – und darf vielleicht selbst bald nicht mehr nach Deutschland: Deutsche Behörden prüfen, ob sie dem österreichischen Rechtsextremisten Martin Sellner die Einreise verwehren können. Mein Kollege Lars Wienand kennt die Hintergründe.


Zum Schluss

Jeder tut, was er kann.

Ich wünsche Ihnen einen vergnüglichen Dienstag. Morgen kommt der Tagesanbruch wieder von Florian Harms.

Herzliche Grüße

Daniel Mützel
Reporter im Hauptstadtbüro von t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

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