Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Donald Trump kündigt Diktatur an
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
Geschichte wiederholt sich nicht, aber fiktive Geschichten können sich als Blaupausen für die Realität erweisen. So wie die Geschichte, die Philip Roth, einer der größten amerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, in seinem Roman "Verschwörung gegen Amerika" erzählt. In dem Plot gewinnt der charismatische Populist Charles Lindbergh die Präsidentschaftswahl im Jahr 1940 und beginnt eine rassistische Hetzjagd: Er paktiert mit den deutschen Nationalsozialisten, lädt Hitlers Außenminister Ribbentrop ins Weiße Haus ein und lässt Juden deportieren. Die USA schlittern in eine existenzielle Krise und sind drauf und dran, den Rest der Welt mit sich zu reißen. Es kommt zu Unruhen, Attentaten und Pogromen; niemand ist mehr sicher.
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Roths Buch hat bei seinem Erscheinen 2004 in der Literaturwelt Wellen geschlagen und zählt bis heute zu den lesenswertesten politischen Romanen. Zu Beginn dieses Superwahljahres 2024 habe ich es wieder aus dem Regal gezogen – und aufs Neue über die beunruhigende Prophezeiung gestaunt. Vor 20 Jahren war Donald Trump noch ein windiger New Yorker Immobilienhai, über den man sich in politischen Kreisen allenfalls amüsierte. Heute verkörpert er die größte Bedrohung, der Amerika und dessen verbündete Staaten ausgesetzt sind; auch Deutschland.
Natürlich: Donald Trump ist nicht Charles Lindbergh, Putin ist nicht Hitler, Lawrow nicht Ribbentrop, und lateinamerikanische Flüchtlinge sind nicht mit der jüdischen Bevölkerung Amerikas gleichzusetzen. Aber Parallelen zwischen der dystopischen Fiktion des Romans und der bedrohlichen Realität 2024 lassen sich durchaus ziehen. Mit dem Caucus in Iowa hat in den vergangenen Stunden der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf begonnen, und unter den Herausforderern des unbeliebten Amtsinhabers Joe Biden liegt Trump in den Umfragen meilenweit vorn. Erste Prognosen aus der Nacht haben dieses Bild bestätigt. Offenbar hat der Ex-Präsident in Iowa seine parteiinternen Konkurrenten mit deutlichem Abstand hinter sich gelassen.
Trump dominiert den Wahlkampf mit nachgerade traumwandlerischer Sicherheit. Seine Kontrahenten Nikki Haley und Ron DeSantis sind so weit abgeschlagen, und Trumps teils fanatische, teils vom Establishment enttäuschte Anhänger sind so zahlreich, dass ihm die Kandidatur wohl kaum noch zu nehmen sein wird. Es sei denn, die Gerichte kommen dem Gesetzesbrecher doch noch in die Quere. Derzeit sieht es nicht danach aus.
Im Gegenteil: Trump profitiert gewaltig von der Schwäche seines Gegners. Präsident Biden ist sein Alter von 81 Jahren deutlich anzumerken, er verhaspelt sich, hat Aussetzer, bringt Fakten durcheinander oder stolpert, bis seinen Bodyguards der Angstschweiß auf der Stirn steht. Seine Demokratische Partei verstrickt sich in Kulturkämpfe und Cancel-Culture-Streitereien; zusätzlich macht ihr der Linkspopulist Cornel West Stimmen streitig.
Trump dagegen redet wie ein Wasserfall. Was er sagt, ist manchmal schwer vom infantilen Gebrabbel eines Vierjährigen zu unterscheiden; viele seiner Sätze erschöpfen sich in umgangssprachlichen Endloswiederholungen, anmaßendem Selbstlob, wüsten Beschimpfungen seiner Gegner und dreisten Lügen. Aber zwischen dem Gestotter verkündet er glasklar, was er im Falle seines Wiedereinzugs ins Weiße Haus plant:
- An Tag eins will er "wie ein Diktator regieren". Er sinniert über "die Aussetzung aller Regeln, Vorschriften und Artikel, sogar derjenigen in der Verfassung". Laut seinem Wahlprogramm plant er, die Exekutivgewalt massiv auszuweiten und das Justizsystem drastisch zu beschneiden.
- Er will bis zu 50.000 Bundesbedienstete entlassen und durch ideologisch gedrillte Anhänger ersetzen, um mit ihnen den Staatsstreich komplett zu machen. So will er verhindern, dass verfassungstreue Angestellte ihm wie in seiner ersten Amtszeit in die Parade fahren. "Der erste Tag des Präsidenten wird eine Abrissbirne für den Verwaltungsstaat sein", kündigt einer seiner Berater an.
- Kritische Journalisten will Trump mundtot machen, liberale Medien "in die Flucht jagen". "Wir werden die Leute in den Medien verfolgen, die über amerikanische Bürger gelogen haben, die Joe Biden bei der Manipulation der Präsidentenwahl geholfen haben", keift ein anderer Berater und wiederholt die Lüge von der "gefälschten Wahl" 2020.
- Gegner will Trump brutal verfolgen. Bei einer Wahlkampfveranstaltung drohte er in reinster Goebbels-Rhetorik: "Wir werden die Wurzeln der Kommunisten, Marxisten, Faschisten und linksradikalen Gangster herausreißen, die wie Ungeziefer in den Grenzen unseres Landes leben, die lügen, stehlen, bei Wahlen betrügen und alles in ihrer Macht Stehende tun – ob legal oder illegal –, um Amerika und den amerikanischen Traum zu zerstören."
- In Hintergrundgesprächen lassen Trumps Berater durchsickern, was sie außenpolitisch vorhaben: Die USA sollen sich aus der Nato zurückziehen. Weil die dafür notwendige Zweidrittelmehrheit im Kongress illusorisch erscheint, würde Trump den Nato-Verpflichtungen einfach nicht mehr nachkommen. Attackiert also Putin ein osteuropäisches Mitgliedsland der Allianz, wie Polen oder einen der baltischen Staaten, stünden die Europäer womöglich bald allein da. Bis zur deutschen Ostgrenze wäre es dann nicht mehr weit.
Angesichts dieses bedrohlichen Szenarios ist es mehr als verwunderlich, dass die Bundesregierung sich so wenig darauf vorbereitet. Die täglichen Krisen – von der Ukraine und Nahost über den Bauernprotest bis zum Ampeldauerstreit – scheinen alle Kräfte zu binden. Das ist umso riskanter, als Putins Propagandisten unermüdlich für ein neues großrussisches Reich trommeln. Friedrich Merz wirft Kanzler Olaf Scholz und dessen Ministern vor, die Gefahr zu unterschätzen. "Es beschwert mich, wie sorglos die EU und vor allem der größte Mitgliedstaat mit einer solchen potenziellen Herausforderung umgeht", hat der CDU-Chef den Kollegen von Table-Media gesagt. "Die Europäer müssen einen Plan A mit Amerika und einen Plan B ohne Amerika haben, und zwar sehr schnell. Wer Frieden will, muss zum Krieg bereit sein."
Bei der Bundeswehr hingegen wappnet man sich bereits für einen Krieg – zumindest auf dem Papier: Die Militärs spielen unterschiedliche Planspiele durch, darunter das Szenario eines russischen Angriffs auf die Nato-Ostflanke in den kommenden Monaten. Als friedliebender Mensch mag man es sich eigentlich nicht ausmalen, was dann alles geschehen könnte. Müssen wir aber. Leider. Besser, wir bereiten uns rechtzeitig darauf vor. Und sei es nur, um einen Stoßseufzer der Erleichterung in die Welt zu schicken, falls dem alten Biden doch noch die Wiederwahl gelingt.
Termine des Tages
Was geschieht mit den Empfehlungen des ersten Bürgerrats? 160 repräsentativ ausgewählte Menschen aus ganz Deutschland haben Vorschläge erarbeitet, wie sich die Ernährung mit einfachen Regeln verbessern ließe. Liest man die neun Punkte, kommt man aus dem Nicken nicht mehr heraus. Nun muss sich der Bundestag damit befassen – Unionspolitiker wollen von den Wünschen der Bürger allerdings wenig wissen: "Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat die Einsetzung dieses Bürgerrats abgelehnt und das gesamte Verfahren mit Skepsis begleitet", sagt der Abgeordnete Philipp Amthor. Wie kann man mit 31 Jahren schon so abgehoben sein?
Die Lage im Gazastreifen ist verheerend. Mehr als zwei Millionen Menschen leiden unter dem israelischen Militäreinsatz gegen die Hamas – unter Bomben, Kugeln, Hunger. 24.000 Palästinenser sind getötet worden, Israels Militär zufolge sind darunter 9.000 Terroristen. Dann bleiben also 15.000 Zivilisten, ein unfassbar brutaler Preis für die Antiterror-Operation. Und der Einsatz geht weiter.
In Ulm ergeht das Urteil im Prozess wegen des Brandanschlags auf die örtliche Synagoge. Der türkische Angeklagte soll aus antisemitischen Motiven gehandelt haben.
In Davos treffen sich Politiker, Firmenchefs und Lobbyisten zum Weltwirtschaftsforum. Sogar dort beginnt man allmählich zu begreifen, dass die Ideologie vom ewigen Wachstum mehr Schaden als Nutzen anrichtet. Mal hören, was Chinas Premierminister Li Qiang, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Wirtschaftsminister Robert Habeck dazu zu sagen haben.
Ohrenschmaus
Schau ich aus dem Fenster, sehe ich ihn. Trete ich vors Haus, fühle ich ihn. Lausche ich in den Himmel, höre ich ihn. Kein Zweifel: Es herrscht Winter. In den kommenden Stunden soll es noch mehr schneien, im Osten bis zu 30 Zentimeter. Wie schön, dass Herr Gonzales den passenden Song komponiert hat.
Lesetipps
Anlässlich seines 250. Geburtstags sind Kunstliebhaber im Caspar-David-Friedrich-Fieber. Warum sind die Bilder des Romantikers bis heute so enorm beliebt? Mein Kollege Tom Schmidtgen kennt das Patentrezept.
Ron DeSantis galt als Hoffnungsträger und Alternative zu Donald Trump. Beim Start des Präsidentschaftswahlkampfs in Iowa zeigt sich, warum das Weiße Haus für den Mann aus Florida wohl eine Nummer zu groß ist, schreibt unser Korrespondent Bastian Brauns.
Täglich hören und lesen Sie, wie das Jahr 2024 ausgehen wird: Nicht gut. Aber stimmt das überhaupt? Unser neuer Kolumnist Uwe Vorkötter schaut genauer hin.
"Remigration" ist das Unwort des Jahres. Die AfD lacht sich ins Fäustchen, berichtet unsere Reporterin Annika Leister.
Zum Schluss
Was geschieht mit ostdeutschen AfD-Anhängern, die sich ganz doll Remigration wünschen?
Bleiben Sie bitte so demokratisch, empathisch und vernünftig, wie ich es aus vielen netten Leserzuschriften der vergangenen Tage entnehmen darf. Darüber freue ich mich sehr.
Herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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